Erschien: 2011 bei Rowohlt | Seitenzahl: 505
Vor einigen Jahren schon begann ich auf einer Zugfahrt, Martin Walsers Roman „Muttersohn“ zu lesen. Im Herbst ist mir nicht mehr eingefallen, warum ich nur die ersten Seiten lass und dann aufhörte und ich startete erneut, schließlich löste der Titel des Romans eine gewissen Neugier in mir aus, doch schnell stellte sich bei der Lektüre heraus, dass es in diesem Roman aus dem Spätwerk eines der vielleicht größten und umstrittensten noch lebenden deutschen Schriftsteller um mehr geht, als ich dachte.
Anton, genannt Percy Schlugen, ist ein begnadeter Pfleger im psychiatrischen Krankenhaus Scherblingen, gelegen in den Tiefen Südwestdeutschlands, irgendwo, wo der Bodensee nicht mehr weit weg ist. Percy hat eine ihm ständig umgebende Leichtigkeit und er ist ein begnadeter spontaner Redner, wenn er – was sehr selten vorkommt – einmal vor einer Gruppe steht. Bei seinen Kollegen ist er außerordentlich beliebt, wie beispielsweise beim Direktor des Krankenhauses Prof. Feinlein. Percys neuester Patient ist ein spezieller Fall. Es ist Ewald Kainz, der versuchte sich selbst anzuzünden. Doch für Percy hat Kainz eine persönliche Relevanz, denn letztgenannter stand einmal auf einer kleinen politischen Bühne, vor dem Schloss in Stuttgart und Percys spätere Mutter, Fini, hielt ihm das Mikrophon, damit Kainz seine kommunistisch geprägten Botschaften an eine eher begrenzt große Menge weitergeben konnte. Die Ausstrahlung von Ewald beeindruckte die Mutter so sehr, dass sie ihm jahrelang Briefe schrieb, die allerdings später nur Percy zu lesen bekam und nie abgesendet wurden. Fini und Percy lebten in einer seltsamen Harmonie, von welcher der Leser nur wenig erfährt, außer von Percys lebenslanger Suche nach einem Vater, denn gemeinsam mit seiner Mutter ist er beseelt im Glauben, dass für die Empfängnis von Fini kein Mann notwendig war. Und so schaut sich Percy um, wer ihm als Vater recht wäre.
Walsers Roman ist ein nicht immer kurzweiliges zu lesendes Buch, weil es häufig in die Themen Mystizismus und Religion driftet, in denen man sich recht schnell verlieren kann. Jedoch lebt „Muttersohn“ von einer oftmals beeindruckenden Sprache und einigen kuriosen Figuren. Allein schon der, wie eine Jesusfigur angelegte Percy ist eine erstaunliche Person, dessen Spontanität eine große existentielle Tiefe hat. Fast alle Charaktere des Romans changieren zwischen Leben, Glauben, Gott und dem Moment, zwischen der Frage wie wir unser Leben gut und vor allem sinnvoll gestalten zu vermögen. Auch wenn sich bei diesem Buch keine Botschaft unmittelbar aufdrängt, ist es die Stimmung, die sich immer an der Wechselstelle zwischen realen und höheren Sinn des Lebens bewegt und an vielen Stellen beeindruckende Textstellen, die dieses Buch sehr lesenswert machen.