Originaltitel: “Shutdown. How Covid Shook the World’s Economy”| deutsche Übersetzung von Andreas Wirthensohn | 2021 bei C.H.Beck erschienen | 408 Seiten
Stellen sie sich vor, sie wären ziemlich clever (jeder kann sich das eigentlich ganz gut vorstellen, ich stelle es mir manchmal vor – na gut ich gebe zu, öfters vor – ich stelle mir sogar vor, ich wäre besonders clever). Sie sitzen bei der Premiere eines neuen Films und weil sie clever sind und weil unklar ist, wie lange der Film noch geht, gehen aus dem Kino heraus und erzählen dem gespannten Publikum, das keinen Einlass zur Premiere hatte, aber eigentlich echt gern wissen würde, worum es geht, was sie über den Film denken. Ihre Einlassungen sind geprägt von großer Kenntnis und Sachverstand, und sie haben den großen Vorteil, dass sie der Einzige waren, der vorher aus dem Kino rausgegangen ist und können somit erstmal frei erzählen, weil die anderen Typen noch im Saal sitzen. Es gibt eben nur ein winziges Problem, sie kennen das Ende des Filmes nicht, sie wissen noch nicht mal, wie nah oder fern sie am Abspann waren.
Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, den ich durch sein Buch „Crashed“ außerordentlich schätze, hat Ende des letzten Jahres, ein Buch über die Corona-Krise veröffentlicht.[1] Es wurde im April 2021 fertiggestellt und beleuchtet das erste Jahr der Pandemie auf dem Planeten. Eigentlich könnte ich an dieser Stelle schon aufhören zu schreiben, denn dem einen oder anderen mag es aufgefallen sein, die Coronapandemie ist weder im April 2021 noch heute im Januar 2022 wirklich vorbei (vielleicht bald, aber heute noch nicht). Das ist das große Manko, eines Buches, das eigentlich nicht wirklich ein Buch über die Pandemie sein will (so suggeriert es auch der Originaltitel, aber nicht die deutsche Übersetzung!), dessen Hauptschwerpunkt aber die Reaktion auf die Viruskrise ist. Für Adam Tooze ist damit „das Jahr 2020 keineswegs ein Kulminationspunkt, sondern lediglich ein Moment in einem Prozess der Eskalation“ (S.338), der zu einer Politik des Krisenmanagements geführt hat. Als Diagnose ist das aber ein bisschen wenig und man könnte den Vergleich ziehen, dass sie als Arzt einen kranken Menschen vor sich haben, dieser mit einer Grippe vor ihnen steht. Sie diagnostizieren die Krankheit, geben ein Medikament und stellen noch allerhand andere Probleme fest und erklären dem Patienten, darum müsse man sich später auch kümmern. Bei der Darstellung die wir in „Lockdown. Welt am Abgrund“ bekommen, ist die Geschichte aber schon an dieser Stelle zu Ende, ob die Medikamente des Doktors (die Politik) wirken, ob es Nebeneffekte gibt und was wir heilen können und was chronisch werden könnte, werden wir von diesem Buch nicht erfahren, noch nicht mal, wie das mit der ansteckenden Krankheit ausging.
Tooze Fragestellung ist, wie der Einbruch von Corona unser Leben, oder spezieller die Politik, die Machtverhältnisse und unser Wissen verändert hat. Er behandelt die Viruskrise als eines von vielen globalen (und noch kommenden) Problemen. Damit changiert das Buch etwas zwischen einer Geschichte der Pandemie auf der einen Seite und der Erzählung einer Wirtschaftspolitik, wie sie sich in Folge der Krise nach 2008 herausgebildet hat und in welcher sich die Zentralbanken zu einem Schlüssel-Akteur von Wirtschaftspolitik gemausert haben.[2] Tooze zeichnet eine wirtschaftspolitische Linie, deren Entscheidungen weniger singulär wirken, wie die Maßnahmen, die das öffentliche Leben 2020 schlagartig betrafen, mit Lockdown, Maske tragen etc. Doch die Argumentation krankt einfach daran, entschuldigen Sie, wenn ich das wiederhole, dass das Buch im April 2021 fertiggestellt wurde und die Krise nicht nur 2020, sondern auch 2021 von Tag zu Tag komplexer wurde. Als Leser ist man geneigt, die ganze Zeit bei der Lektüre zu denken, was würde Tooze über den Herbst und den Winter 2021 schreiben? Der Autor ging wohl davon aus, das mit der Ausgabe der Impfstoffe die Krise ihr Ende nehmen würde.[3] Doch während im Laufe des Jahres 2021 unterschiedliche Staaten recht unterschiedliche Reaktionen im Umgang mit der Krise fanden und diese entweder ausgehandelt wurden oder autokratisch fixiert wurden,[4] hat sich auch der Erfolg dieser Strategien aus der Perspektive des Januars 2022 verändert und es gilt zu befürchten, dass sich auch diese Perspektive nochmals verändern wird. Während Tooze 2021 davon ausgehen konnte, dass China die Krise eher gut bis sehr gut gemeistert hat, steht dieser Darstellung im Zuge der hochansteckenden Omikronwelle in den Sternen. Die Frage ist dabei vielleicht noch nicht mal wie medizinisch gefährlich die Krise in China werden könnte, sondern viel mehr, wie und wann man die Zero-Covid-Politik beenden könnte, respektive müsse (die Auslöschung des Virus scheint heute – im Winter 2022 – ein eher utopisches Szenario). [5] Ebenso ist das genaue Gegenteil höchst spannend, so wie die Briten, die „Dank“ Premier Boris Johnson im Sommer 2021 einen „Freedom Day“ feierten und darauf vertrauten, dass schon alles irgendwie klappen würde. Das dann noch die Deltavariante kam, die Erkenntnis das die Impfstoffe nicht so langanhaltenden Schutz aufrechterhielten wie erhofft[6] und nun mit Omikron, eine Viruswelle über uns drüber rollt, die scheinbar das ganze Pandemiegeschehen wieder neu definiert, sind alles Punkte, die in Tooze Buch keine Beachtung finden können, ebenso wie er keinen Blick hat auf die aufkommende Inflationsangst, ob diese nun gerechtfertigt ist oder nicht und damit auch nicht, wie Politik und Wirtschaft darauf reagieren.
Die Frage des Sachbuches konzentriert sich also darauf, was passiert, wenn Katastrophen eintreffen und wer die neuen Akteure in dieser Ad-hoc Katastrophenpolitik sind. Das ist nicht viel mehr als ein kleiner Abriss, was in den ersten Monaten der Pandemie in Kontinuität zur Politik seit 2008 geschehen ist. Das ist zwar spannend zu lesen, aber gleichzeitig auch schon wieder veraltet.
[1] Um zu zeigen, wie unglaublich un-clever ich bin, möchte ich betonen, dass ich recht bald nach meiner Kenntnis von Tooze neum Buch, zu meinem Buchhändler gegangen bin, um mir eine Ausgabe zu kaufen, um dann nur unmittelbar nach dem Erwerb festzustellen, dass die Landeszentrale das Buch ab Januar dieses Jahres in ihr Sortiment aufgenommen hat.
[2] Insbesondere die US-amerikanische FED, weil diese über die globale Währung, dem Dollar wacht.
[3] Wenn man mich dies im April 2021 gefragt hätte, wäre ich auch davon ausgegangen.
[4] In Deutschland beispielsweise wurde von Seiten einiger Wissenschaftler die Strategie „Zero-Covid“ propagiert, wie sie ähnlich in China praktiziert wird, die sich aber im politischen Entscheidungsprozess hierzulande nicht durchsetzen konnte.
[5] Den Chinesen und uns allen wäre es natürlich zu wünschen, dass das unvermeidliche Omikron, das man nicht mehr eliminieren kann, in China harmlos über das bevölkerungsreichste Land der Welt rollt, aber Wunsch und Realität spielen bei dieser Krise leider nur selten Hand in Hand.
[6] Oder lag es an den unterschiedlichen Varianten und dem Nichtvorhandensein von Updates beim Impfstoffen des Types m-RNA, dessen größter Vorteil, so wurde noch zu Beginn des Jahres 2021 gemutmaßt, ja gerade die schnelle Reaktion auf neue Virusmutationsvarianten war?