Erschien (posthum) 2004 bei Editorial Anagrama | auf Deutsch übersetzt von Christian Hansen 2009 bei Hanser und als Taschenbuch 2011 bei Fischer Taschenbuch erschienen | 1.200 Seiten (in der hier vorliegenden Taschenbuchausgabe)
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht am besten beim Autor. Der Name Roberto Bolaño schwirrte mir schon seit einiger Zeit durch den Kopf, aber woher dieses cerebrale Schwirren kam, ob aus einer Richtung Borges, oder vielleicht Mitchell, ist mir unklar. Vielleicht auch aus einem anderen Kontext heraus, der mir nicht mehr erinnerlich ist. Eines Abends jedoch, schrieb ich eine kontemplierte ich über einer neuen Leseliste und auf dieser sollte sich der Name Bolaño wiederfinden. Nach kurzer Recherche konnte ich „2666“ als sein Hauptwerk identifizieren. Warum ich auf das bekanntesten oder renommierteste Buch ziele, ist mir ebenfalls nicht ganz klar (ich könnte ebenfalls chronologisch vorgehen, aber vielleicht hege ich hier Zweifel dass der früheste Text nicht ganz ausgereift sein könnte), jedenfalls lag im Herbst des Jahres das gleichzeitig längste Buch von Bolaño in meinem Bücherregal und an einem weiteren Abend, diesmal im November – ich beendete gerade Thomes Roman „Grenzgang“ – nahm ich den über 1.000 Seiten starken Band in die Hände, um mal reinzulesen in „2666“. Tatsächlich ließ mich das Buch nicht mehr los und es ist wohl der Welzer (also ein Buch mit über 1.000 Seiten), den ich am schnellsten in meinem Leben verschlang.
„2666“ ist in so vielen Facetten ein interessantes Buch. Als erstes sollte erwähnt werden, dass es sich um ein Fragment handelt, denn der Roman wurde nicht mehr zu Lebzeiten von Bolaño von ihm fertiggestellt. Am 28.April nächsten Jahres, würde der gebürtige Chilene, 70 Jahre alt werden, tatsächlich starb er aber nicht mal drei Monate nach seinem 50.Geburtstag an Leberversagen. Bolaño wartete vergeblich auf eine Organspende und schrieb seinen letzten Roman im Angesicht des drohenden Todes. Seinen Verleger beauftragte er, den Text, der aus fünf großen Kapiteln besteht, in fünf verschiedenen Büchern herauszubringen, damit sowohl der Verlag als insbesondere seine Familie, höhere Einnahmen erwarten könnten. Nach Bolanos Tod konnte man feststellen, dass der Text für „2666“ mehr oder weniger vollständig vorhanden war und nur minimal angepasst werden musste und man entschied sich, den Text als ein Buch herauszubringen, so wie es Bolaño wohl auch gemacht hätte, wenn er die Lebenszeit dafür gehabt hätte.
Wie bereits erwähnt besteht der Roman aus fünf Kapiteln, deren Verbindung in der fiktiven Stadt Santa Teresa in Mexiko liegt. Oftmals kann man lesen, dass das reale Vorbild von Santa Teresa, Ciudad Juarez ist, eine Stadt, die insbesondere um die Jahrtausendwende für ihre extrem hohe Mordrate fast schon weltweit bekannt und gefürchtet war und wie ich neulich laß auch heute noch zu den fünf gefährlichsten Städten der Welt zählt.[1] Tatsächlich spielt jedes Kapitel, wenigstens in kleinen Teilen, in der Santa Teresa, aber nur zwei Kapitel handeln direkt hier und das allgemein als Hauptmotiv angesehene Thema der Frauenmorde, welche in Santa Teresa stattfinden, wird nur in Kapitel vier (allerdings im längsten Teil des Buches) beschrieben. Eingerahmt wird die Handlung in Kapitel eins und fünf von der Figur des fiktiven deutschen Autors Benno von Archimboldi.
Nähern wir uns ganz grob dem Inhalt. Im ersten Kapitel sind vier europäische Literaturwissenschaftler (Jean-Claude Pelletier aus Frankreich, Piero Morini aus Italien, Manuel Espinoza aus Spanien und Liz Norton aus Großbritannien) nicht nur mit der Textexegese von Archimboldis Werken beschäftigt (wobei die Texte des Deutschen fast nie konkret inhaltlich beschrieben werden), die sie zu weltweit renommierten Experten des Autors machen. Dieser lebt jedoch vollkommen anonym, ihm werden aber große Chancen auf den Literaturnobelpreis eingeräumt. Die vier Kritiker bauen eine komplexe zwischenmenschliche Beziehung auf, denn immer wieder changieren ihre gegenseitige Beziehung zwischen Freundschaft, Sex und Liebe. Final reisen drei von ihnen nach Santa Teresa, weil sie dort Archimboldi vermuten und ihn aufspüren möchten. Dort lernen sie den chilenischen Philosophieprofessor Amalfitano kennen, dem das zweite Kapitel gewidmet ist. Ihn hat das Schicksal in die ausgesprochen unschöne Stadt Santa Teresa getrieben, wo er mit seiner Tochter lebt. Schon im Schluss des ersten Kapitels erfährt der Leser – fast beiläufig – von den vielen Frauenmorden in Santa Teresa, die auch in Kapitel zwei im Hintergrund bleiben, aber die gefährliche und man möchte sagen böse Grundstimmung des Romanes untermalen. Kapitel drei beginnt in New York mit dem Journalisten Nate, den ein Boxkampf nach Santa Teresa führt und der dort von den vielen ungelösten Frauenmorden hört und dies als große Story betrachtet, was aber seine Redaktionsleitung nicht so sieht. Kapitel vier behandelt in aller Ausführlichkeit die Frauenmorde, in dem über Jahre hinweg jeder Todesfall mit einer beeindruckenden Mischung aus Nüchternheit und Düsternis beschrieben wird, genauso wie die Unfähigkeit und Korruption der örtlichen Polizei, irgendeiner Spur substanziell nachzugehen. Dieses Kapitel besteht aus sehr vielen einzelnen Personen und Geschichten, deren erscheinen sich vermischt und eine Art böser Strudel der Kriminalität und des Lebens in Mexiko aufzeigt. Im letzten – immerhin auch über 350 Seiten starken Kapitel – lernen wir die Biographie des Schriftstellers Archimboldi kennen, doch wie dieser nach Santa Teresa kommt, müssen Sie selbst lesen.
„2666“ hielt ich anfangs für einen Science-Fiction Roman, der in der Zukunft spielt, weil ich die Zahl für eine Jahreszahl hielt. Tatsächlich existiert weder eine Handlung in der Zukunft, noch taucht diese Zahl jemals im Roman auf, aber man soll sich der Zahl nähern, wenn man weitere Bücher von Bolaño liest (das gilt es unbedingt zu tun), den ähnlich wie bei David Mitchell, sollen Handlungen, Motive und vielleicht auch Figuren über mehrere Werke sich erstrecken. Das ist eine wundervolle Aufgabe, denn schon „2666“ ist eine Fundgrube, humorvoller, trauriger und bewegender Literatur.
Der Roman ist mit wohl der beste Roman, den ich 2022 gelesen habe (was etwas heißt, denn das Bücherjahr hatte viele Highlights). Ich habe mir bereits Sekundärliteratur beschafft und werde im weiteren Verlauf diesbezüglich einige weitere Gedanken zu „2666“ an dieser Stelle veröffentlichen.
[1] Immer wieder liest man das Ciudad Juarez das Eben- oder Spiegelbild von Santa Teresa sei. Ich kann dies durch fehlende Ortkenntnis nicht verifizieren, auffällig sind aber die geographischen Beschreibungen der Umgebung von Santa Teresa. Diese zeigen die Stadt nicht dort an, wo Ciudad Juarez liegt, sondern eher dort wo der mexikanische Grenzort Nogales liegt (Beispiele: Santa Teresa soll im Bundesstaat Sonora liegen, CJ liegt aber in Chihuahua, die Städte in der Nähe von Santa Teresa, die von einigen Figuren im Roman angesteuert werden sind Hermosillo (in Sonora/MEX) und Tucson (in Arizona/USA). Verbindet man die Städte kommt man über Nogales, Ciudad Juarez jedoch liegt über 500km weiter östlich. Wirklich wichtig ist das alles nicht, aber durch die zahlreichen geografischen Hinweise, die Bolaño für das Umland von Santa Teresa gibt, ist für mich eine automatische Zuordnung der Stadt mit Ciudad Juarez irgendwie befremdlich. Vielmehr scheint Bolaño daran gelegen die Ambivalenz aufzuzeigen, die den gesamten Roman umgibt, da ist der Eindeutige Bezug zu Ciudad Juarez und dann ist es wiederum och nicht die Stadt, sie scheint es zu sein, und doch ist der fiktive Ort an einer ganz anderen Stelle zu verorten.