Erschien 1998 beim Berlin Verlag | hier vorliegend als Taschenbuch bei dtv mit 315 Seiten
In den frühen 2000er Jahren konnte ich mich nicht, eines umherschwirrenden Themas erwehren, welches darin bestand; dass damals schon 10 Jahre zur Bundesrepublik gehörende Ostdeutschland zu durchdenken. Das „vereinigte Deutschland“ war damals – und ist es heute noch – ein ungewöhnlich schiefes Land, oder besser gesagt ein schiefer Begriff. Das liegt an einer eigentümlichen Trennung zwischen: „an Deutschland denken“ und an das „vereinigte Deutschland“ denken. Nimmt man nur letzteres müsste man theoretisch annehmen, an ein gesamtes Land zu denken, aber „vereinigtes Deutschland“ bezog (und bezieht) sich interessanterweise zumeist auf Ostdeutschland und die Frage, was die Leute dort so machen, seit sie zur BRD gehören. Das wirkt ein klein wenig so, als wenn sie nachdem Sex immer nur einen Partner befragen, wie es für diesen – trotz Vereinigung – denn so war und wie es ihm so dabei geht. Ein schönes Beispiel für die Begriffsanomalie ist ein Zitat auf dem Cover der Taschenbuchausgabe von Ingo Schulzes Roman „Simple Stories“ auf dem man lesen kann: „Ingo Schulze hat den langersehnten Roman über das vereinigte Deutschland geschrieben.“ Das schon im Untertitel „ostdeutsche Provinz“ zu lesen ist und der Roman fast ausschließlich im thüringischen Altenburg spielt, verstärkt meinen Verdacht, dass alles, was man über das „vereinigte Deutschland“ sagen kann, immer irgendwie ostdeutsche Befindlichkeit sein muss[1].
Wie dem auch sei. Tatsächlich fand (und finde) ich seit dieser Zeit, genau diese ostdeutsche Befindlichkeit ziemlich spannend (man ist ja selbst Betroffener) und in jenen Jahren um die Jahrtausendwende, kaufte ich mir Schulzes Roman. Leider kam ich nie über die ersten 50 oder 100 Seiten hinaus und noch bedauerlicher ist es, dass der Roman bis 2023 im Bücherregal warten musste, bevor ich ihn nochmals in die Hand und zur Lektüre nahm, jetzt von einer Faszination für die Schriften von Ingo Schulze getrieben und den ostdeutschen Hintergrund etwas vergessend.
„Simple Stories“ ist ein Buch, dass aus 29 Kurzgeschichten besteht, die sich zu einem Roman zusammensetzenlassen. Gleich zu Beginn sei vermerkt, dass dies nicht immer leicht zu lesen ist, dass es dann doch eine ganze Menge handelnder Personen gibt, deren Namen dann auch nicht großartig divergieren und bei denen ich Mühe hatte, sie jeweils korrekt einzuordnen, als sie mehrere Geschichten später wieder auftauchten. Ich gehe davon aus, dass dies auch meinen ersten Leseversuch vor 20 Jahren stoppte. Die Fokussierung des Romans bezieht weniger auf die Personen, dafür rücken die Geschichten und ihre Settings ins Zentrum. Diese Stories spielen in einer Zeit der Unsicherheit. Die Bewohner Altenburgs, gehen wie alle Ostdeutsche in den 1990er Jahren durch turbulente Zeiten. Die politische Wende brachte Jobverlust, neue Orientierung, alte Rechnungen, eine andere Arbeitsethik oder (und) Arbeitslosigkeit, Sinnsuche und einiges mehr. Gesellschaftliche Veränderungen bringen neue Einstellungen und auch diesen kann man manchmal beim Zerplatzen und Scheitern zusehen. Und zwischen all dem, ist dann das Miteinander mit anderen Menschen; Freundschaft, Hass, Liebe, Enttäuschung.
Ingo Schulze zeichnet die ersten Jahre der 1990er Jahre in Ostdeutschland sehr beeindruckend nach, indem er die damalige Stimmungslage vielschichtig inszeniert, in einem Roman, der ein Mosaik der Befindlichkeiten ist und sich selbst in den 2020er Jahren noch aktuell anfühlt, weil einige Geschichten im Roman zeitlos sind.
[1] Vielleicht kann man sagen, dass die Frage nach dem „vereinigten Deutschland“ eine Frage nach dem Status des Anschlusses war (und ist?).