Erschien im Original: 2020 | deutsche Übersetzung von Volker Oldenburg | 2022 erschienen bei Rowohlt | 748 Seiten
Als mir letzten Sommer mein Geburtstagswunsch erfüllt wurde und ich David Mitchells neustes Buch bekam, da war mir klar, dass es vorerst der letzte Roman des britischen Schriftstellers für mich sein würde, denn mit seinem 2022 auf Deutsch erschienen Buch habe ich alle von ihm momentan verfügbaren Werke gelesen[1]. Also verzögerte ich den Lesegenuss nach hinten und als 2023 anbrach wurde ich mir bewusst, dass ich nun doch endlich anfangen könnte, die 748 Seiten anzugehen.
„Utopia Avenue“ spielt im Jahr 1967. Der kanadische Musikmanager Levon Frankland führt vier junge Musiker in London zusammen, um eine Band zu gründen. Da ist der abgebrannte Bassist Dean Moss, aus Gravesend stammend, einem Arbeitervorort am östlichen Ende der Themse gelegen. Die Keyboarderin Elf Holloway, die kürzlich von ihrem Freund verlassen wurde, der Halb-Brite, Halb-Holländer Jasper de Zoet, der ein begnadeter Gitarrist ist, aber ein sehr merkwürdiger Einzelgänger zu sein scheint und der Nordengländer Griff, der das Schlagzeug spielt. Die vier Musiker finden tatsächlich musikalisch zueinander und schon bald spielen sie ihre ersten Konzerte und sie starten einen gemeinsamen Weg kreativer Entfaltung, öffentlicher Aufmerksamkeit, Geld und Starrummel, der sie tief ins Musikbusiness eintauchen lässt.
Im Vergleich zu anderen Romanen aus Mitchells Werk erinnert „Utopia Avenue“ eher an den Realismus, den wir beispielsweise in „Der dreizehnte Monat“ finden können. Trotzdem gibt es auch in seinem neuesten Roman, ein Wiedersehen mit dem gedanklichen Firmament an Themen und Charakteren, welches seine Werke immer wieder begleitet. Mitchell selbst bezeichnet es als das sogenannte „über-book“. In „Utopia Avenue“ fällt es am meisten am Charakter von Jasper de Zoet auf, der natürlich ein Nachkomme von Jacob de Zoet ist, den wir in Mitchells 2010er Roman „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“ kennenlernten. „Utopia Avenue“ taucht für wenige Kapitel (welche alle nach Songs der Band benannt und aus der Perspektive der drei komponierenden Musiker Holloway, Moss und de Zoet geschrieben sind[2]) in Mitchells Fantasy-Welt ein, die er selbst im Roman als Psychoestoterik beschreibt, einer „Teildisziplin der angewandten Metaphysik“ (S. 626). Man muss sich dort auf bekannte Sujets wie Seelenwanderung und übernatürliches Leben, im Sinne einer Existenz über den Tod einer biologischen Hülle hinaus, einlassen. Am ausführlichsten wurde diese Welt hinter der „sichtbaren Welt“ in seinem 2014er Roman „Die Knochenuhren“ behandelt. David Mitchell Neulinge, mag dieser „Ausflug“ eines sonst das Bild der Musikwelt der späten 1960er recht realistisch nachzeichnenden Romans, etwas irritieren, ich empfand es aber als gelungene Aufwertung und ein schönes „Wiedersehen“. Seine Leser finden dann eine Reihe seiner Charaktere und Orte wieder, die schon in anderen Romanen eine Rolle spielten.[3] Zusätzlich spart er nicht an Gastauftritten einer fast schon unüberschaubar großen Anzahl von Stars aus der Musikszene der damaligen Zeit, sowohl aus Großbritannien, als auch aus dem USA.
„Utopia Avenue“ ist als erstes eine Reminiszenz an die Musikgeschichte der späten 1960er im englischsprachigen Raum. Wir schauen in die Welt des Musikbusiness, sehen Stars und Affären und lernen vier sehr unterschiedliche Charaktere kennen, denen aber alle ein Fakt eint; sie alle Leben ihren Traum in der Band Utopia Avenue aus, aber der Mensch, der sie sind, sind sie bereits, bevor sie berühmt wurden, wofür immer wieder eingebaute Rückblenden sorgen. Es ist also kein Roman, der die gefährliche Transformation von Nobodys zu Stars aufzeigt, vielmehr ist es eine Ode an das Ausleben künstlerischer Kreativität. Alle drei Songschreiber bzw. Erzähler sind auf ihre Art sehr sympathisch, haben ihre Ecken und Kanten und wachsen einen schnell ans Herz, insofern ist es nicht nur ein Roman für Musikliebhaber des Rock-n-Roll, sondern auch eine sehr schöne Geschichte über den Aufstieg einer Band. Als minimalen Mangel kann man vielleicht anführen, dass im letzten Drittel des Buches einige Passagen (insbesondere einige Dialoge) etwas runtergeschrieben wirken und Puristen könnten argumentieren, dass der Mitchell typische Ausflug in die Psychoesoterik vielleicht nicht hätte unbedingt sein müssen, wobei genau dass auch den Zauber seines Schreibens für seine Fans, zu denen ich mich unbedingt zählen würde, ausmacht. Auch Mitchell-typisch ist die Angewohnheit seiner Handlungsverläufe, dass wirklich dramatische Ereignisse, sich immer dann ereignen, wenn Teile der handelnden Akteure gerade in das Stadium größtmöglicher Harmonie eintauchen.[4]
„Utopia Avenue“ ist nicht der große Panoromablick auf Epochen und Menschheitsschicksale, den man in Mitchells Romanen gern bekommt (angefangen von „Chaos“[5] über den „Wolkenatlas“ bis zu den „Knochenuhren“), auch nicht das kleine und intime Setting, dass man von „number 9 dream“ oder „Der dreizehnte Monat“ kennt, sondern etwas dazwischen, die Geschichte einer kreativen Explosion von vier Menschen innerhalb eines Jahres. Vielleicht nicht das neue Meisterwerk Mitchells, aber ein sehr unterhaltsames und sympathisches Buch.
[1] Das bezieht sich allerdings nur auf Mitchells acht Romane.
[2] Was ich für eine sehr schöne Idee halte, da dies dann auch oftmals mit dem Entstehungsprozess des Liedes verbunden wird.
[3] Die erste Single der Band mit dem Titel „Darkroom“, wie auch der Radio DJ Bat Segundo tauchen bereits in seinem ersten Roman „Chaos“ auf, wo auch der „Mongole“ vorkommt, der Jasper rettet. Aus dem „Wolkenatlas“ stammt „Das Wolkenatlas Sextett“ von Robert Frobisher und auch Elfs Freundin Luisa Rey spielt in diesem Roman eine große Rolle. Die Band spielt ihr erstes Konzert in Gravesend in einem Pub, dass von der Familie Sykes geleitet wird, zu dieser wiederum Holly Sykes gehört, einer Hauptfigur aus den „Knochenuhren“. Und dies sind nur ein paar Verweise auf Mitchells „über-book“.
[4] So als müsste es immer einen Schicksalsschlag geben, wenn es einem zu Gut geht. Das erinnert ein wenig an den Film „Buba“.
[5] Im Zusammenhang mit der Einordnung von „Utopia Avenue“ habe ich lange überlegt, welche Position der Roman in einer persönlichen Mitchell-Hitliste einnehmen könnte und tatsächlich kann ich das nicht so richtig sagen, denn alle seine Bücher haben etwas. Was ich aber sagen kann ist, das „Chaos“ für mich das beste Buch ist, dass er (bisher) geschrieben hat.