Gute Bücher laden irgendwie automatisch dazu ein, sie nochmal zu lesen. Man beendet die letzte Seite und alles rattert in einem, die eigene Interpretationsmaschine springt an und je nachdem wie diese gerade arbeitet, möchte man dieses, oder jenes, oder lieber alles nochmal studieren, einzelne entscheidende Sätze oder gar nur Wörter finden. So ging es mir auch bei Daniel Kehlmanns Erzählung „Du hättest gehen sollen“, die im Jahr 2016 erschien. Das fällt hier sogar leichter als bei anderen Werken, da sie nicht einmal 100 Seiten zählt. Doch in der Kürze liegt hier trotzdem sehr viel Spannung. Man verlässt das Buch und bleibt doch darin gefangen, denn was genau ist hier eigentlich vorgefallen?
Der Ich-Erzähler, ein nicht namentlich genannter Drehbuchautor, seine Frau Susanna und die vierjährige Tochter Esther sind Anfang Dezember in einer einsamen Hütte in den Bergen eingemietet. Ein wichtiges Skript ist abzugeben, die Fortsetzung des Erfolgsfilms „Absolute Freundinnen“. Doch so richtig will die Arbeit nicht voran gehen, irgendwie stören Frau und Kind ein wenig bei der Konzentration, insgesamt ist die Ehe wohl eher routinierte Streiterei geworden. Doch dann ist da noch etwas anderes. Etwas mit dem Ort, dem Haus, oder dem Berg. Langsam, fast wie im Traum, beginnt sich die Wahrnehmung an diesem Ort zu verändern, als wäre alles irgendwie doppelt, oder auch nur zu Hälfte da.
Kehlmanns Erzählung ist eine phantastische Geistergeschichte, bei der aber nicht sicher ist, ob es Geister gibt und wenn ja, wer diese sind. Es ist ebenso die Aufnahme einer Ehe und nicht zuletzt die Frage welchen Schritt man im Leben als nächstes nachgeht oder ob man nicht schon lange aufgehört hat irgendwo hinzugehen. Und so bleibt der Titel der Erzählung so etwas wie eine essentielle Fragestellung und Aufforderung an das Leben zur gleichen Zeit. Wann ist es Zeit zu gehen und wann ist es eigentlich zu spät? Eine kurze, aber sehr intensive und am Ende äußerst offene Erzählung. Sehr lesenswert.