Erschien 2008 bei Kiepenheuer & Witsch | hier vorliegend im dtv Taschenbuch mit 150 Seiten
Es ist eine ganze Menge Wasser an den neuen, von den Abrissbauarbeiten der Ruine der Carolabrücke ausgelösten, Stromschnellen der Elbe heruntergeflossen, seit ich meinen letzten Roman beendet habe. Das lag zu großen Teilen an jeder Menge Sachbücher, die ich in völliger Ignoranz meines diesjährigen (letztlich vollkommen verfehlten) Tsonduku-Anspruches erworben und ansatzweise gelesen habe, aber an dieser Stelle nicht mehr besprechen möchte.
Christian Krachts dritter Roman ist – ganz saisonal – ein gutes Winterbuch, denn es entführt uns in eine eisigkalte Schweiz, die in einer Alternativgeschichte des 20. Jahrhunderts in eine Sowjetrepublik umgestaltet wurde. Tatsächlich scheint Lenin hier seine kommunistische Revolution durchgeführt zu haben (Kracht nutzt das Tunguska-Ereignis, um Russland als Revolutionsort auszuschalten[1]) und die Welt führt nun schon einen jahrzehntelangen Krieg miteinander. Ein namenloser Erzähler ist politischer Kommissar und hat den Auftrag einen jüdisch-polnischen Oberst und Geschäftsmann namens Brazhinsky ausfindig zu machen. Wie er von der örtlichen Divisionärin Favre erfährt beherrscht Brazinhsky eine neue Kommunikationsform, die Rauchsprache, die in diesen Zeiten sehr nützlich sein könnte, da die allermeisten Menschen den Gebrauch der Schrift vergessen haben. Brazhinsky soll sich ins Reduit zurückgezogen haben, einem gigantischen Tunnelsystem in den Bergen.
Krachts kurze Erzählung führt uns in eine dystopische Welt, in welcher die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts im ständigen und immerwährenden Kampf miteinander liegen. Hier scheinen die kalten Ideen der Weltanschauungen, die menschliche Zivilisation zurückgebombt zu haben, auf einen Planeten der Kultur und Fortschritt minimiert und den Überlebenskampf – vielleicht mehr noch den Willen zu überleben – maximiert. Das ist von Kracht atmosphärisch sehr dicht geschrieben, wobei die Sprache hier wie dunkle Nebenschwaden, wie Schnee eher rieselt. Kracht entwirft keine Dystopie, die haarklein den Niedergang der Menschheit beschreibt, sondern er malt ein Bild vom Ende des menschlichen Fortschritts, vom Niedergang, vom Arrangement mit dem Ende der Hoffnungen. Das ist tatsächlich heute zeitgemäßer als vor 16 Jahren, nur würde man wohl heute die Wurzeln des Übels in anderen Ideologien suchen als dem hier hauptsächlich dargestellten Kampf von Kommunismus und Faschismus und anderen Weltsystemideologien. Ein Buch das in Erinnerung bleibt, besonders durch Krachts wirkungsmächtige Sprache.
[1] Das Tsuguska Ereignis regt die Fantasie vieler Autoren an, nur zwei Jahre vor erscheinen von Krachts Roman verarbeitete es beispielsweise Thomas Pynchon in „Gegen den Tag“. Wikipedia.de zählt allein 11 Referenzen in der Literatur auf.