Im Winter in Deutschland tendiert man je eher dazu, sich in sein gemütliches Lesesofa zurück zu ziehen und zu lesen. Dabei eignet sich ganz prima ruhige, vielleicht sogar etwas melancholische Literatur, während draußen der Schnee fallen sollte, es aber eigentlich nur regnet.
Judith Hermanns Durchbruch gelang ihr mit dem 1998 erschienen Erzählband „Sommerhaus, später“ und wurde mir als sehr lesenswerte Literatur beschrieben. Die neun Geschichten im Buch halten mehrere Merkmale zusammen. Sie alle haben einen ruhigen Ton, dessen Handlung sehr klar überschaubar ist, der aber auch recht großen interpretatorischen Spielraum lässt.
Eine kleine Aufzählung der Stories soll einen Einblick in das Rahmenfeld der Handlung geben. In „Rote Korallen“ wird die Geschichte eines roten Armbandes nachgezeichnet, dass in der Familiengeschichte der Erzählerin zu zwei Trennungen führt. „Hurrikan (something farwell)“ ist die Geschichte einer Urlaubreise zweier Frauen in die Karibik, die unter dem Schatten eines drohenden Hurrikans steht. „Sonja“ beschreibt die etwas merkwürdige Beziehung eines Künstlers zu einer Frau, die er im Zug kennenlernt. „Ende von etwas“ wiederum porträtiert eine alte, zänkische Frau, deren verbliebenes Lebensziel es scheint, die eigene Familie zu malträtieren. „Bali-Frau“ ist die Geschichte einer Party-Nacht unter Künstlern und Bohémen. „Hunter-Thompson-Musik“ charakterisiert einen alten Mann in New York, der in einem schäbigen Hotel wohnt und noch einmal aus seinem gewohnten Rhythmus herausgerät, als er eine neue und viel jüngere Zimmernachbarin bekommt. „Sommerhaus, später“ erzählt von einem vagabundierenden Taxifahrer, der in eine Künstlergruppe gerät, die ihn wohl eher wegen seiner Äußerlichkeiten akzeptiert. „Camera Obscura“ handelt von der sehr hübschen Marie, die sich mit einem eher sehr hässlichen Prominenten einlässt. „Diesseits der Oder“ zeichnet in der letzten Geschichte das Bild eines mit der Welt äußerst unzufriedenem Autoren, der sich mit seiner Frau und Sohn auf sein Sommerhaus zurückgezogen hat um mit anderen Menschen nichts mehr zu tun haben zu müssen, als unerwartet Besuch eintrifft.
Selten hatte ich so ein gemischtes Gefühl bei einem Erzählband. Auf der einen Seite finde ich Hermanns Tonfall teilweise wundervoll, weil er von Stimmungen, verborgenen Gefühle und Weltsichten erzählt, ohne sie zu benennen und das ist tatsächlich eine Meisterleistung, aber immer wieder werden die Erzählungen symbolisch zu schwer und wirken eigenwillig künstlich, so wie etwas bei Wim Wenders „Himmel über Berlin“, wo man die Gedanken der U-Bahnfahrer erfährt, feststellt, dass jeder von ihnen in anthropologisch-philosophische Probleme vertieft ist und sich fragt, ob man der Einzige ist, der in der Bahn an seine „to-do“ Liste des Tages denkt. So haben auch einige von Hermanns Geschichten dieses „too-much“, am eindrücklich ärgerlichsten vielleicht, beim Schluss der Erzählung „Ende von etwas“. In den zahlreichen Momenten in welchen die Geschichten nicht so aufgeladen sind, ist dieses Buch jedoch sehr schöne Literatur. Wie wunderbar ist es vom Urlaub in der Karibik als ein „sich-so-ein-Leben-vorstellen“ zu sprechen. „Sonja“ ist eine bizarre und nebulöse Liebesgeschichte, bei der nicht klar wird, ob und wann Liebe anfängt. Die Titelgeschichte „Sommerhaus, später“ ist ein herrlicher Bericht über die Eigenlogik von Gruppen und die Frage was es bedarf dazuzugehören. Und schließlich ist der nihilistische Kauz Koberling in „Diesseits der Oder“ ein auserlesenes Beispiel eines Lebens dessen Sinn sich im Spott über alles andere ergibt. Ein wirklich schöner Erzählband, mit kleinen, jedoch ärgerlichen Schwächen.