Die Münchner Geschichtswissenschaftlerin beschreibt in ihrem 2016 erschienenen Buch „Südosteuropa. Weltgeschichte einer Region“ in die Geschichte des Südostens Europas ein, der gemeinhin gern auch als Balkan bezeichnet wird (warum sie diesen Begriff lieber vermeidet, erfährt der Leser recht bald). In über 600 Seiten führt uns die Geschichte von Alexander dem Großen bis zum Jugoslawien-Krieg. Calic vermittelt dabei nicht nur die Historie dieses Teils des Kontinents, sondern zeigt wie verflochten er ist in die Geschicke Europas und der Welt. Sie beleuchtet die Herrschaft großer Imperien, wie dem Osmanischen Reich oder der Habsburger Dynastie, die erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Region hatten, ebenso wie sie das bunte Gemisch aus Ethnien und Religionen beschreibt, aus denen im 19. und 20. Jahrhundert eigene Nationalstaaten wurden, die sich wiederum (manchmal recht fantasievoll) der Geschichte bedienten, um ihre geistige Legitimation zu erklären.
Das Buch zeigt sehr anschaulich, wie Südosteuropa immer im Kontakt mit der Welt stand und steht und wie es sich seit dem 15. Jahrhundert zu einem Labor für diplomatische und politische Maßnahmen entwickelte die später gern weltweit eingesetzt wurden, wie beispielsweise der „humanitären Intervention“ (erstmals eingeführt im griechischen Unabhängigkeitskrieg) oder wie auch der Internationale Strafgerichtshof aus der Bewältigung des Jugoslawienkrieges entstand. Die Geschichte Südosteuropas ist auch eine Geschichte des Aufstieges der Idee der Nation, gepaart mit so unterschiedlichen Entwürfen wie Liberalismus, Freiheitsbewegung und Chauvinismus. Dabei spielen sich diese Prozesse immer in einer Wechselwirkung mit globalen Bewegungen ab, die aber nicht nur einer sich weiter verstärkende Nationalisierung hervorbringen, sondern auch Internationalisierung bestärken.
Der Balkan, dessen begriffliche Erwähnung Calic zurückhaltend benutzt wird für den Rest von Europa spätestens im 19. Jahrhundert, aus einer Perspektive der Rohheit und Gewalttätigkeit empfunden. Dazu trugen entsprechende Ereignisse ihren Teil bei, so waren ethnische Säuberungen, Vertreibung und Umsiedlung hier leider kein Einzelfall, sondern fast schon ein bald gern benutztes Mittel der Politik. Gleichfalls zeigt Calic wie Südosteuropa im Interessengebiet von Habsburg, Osmanischen Reich und Russland (später ergänzt durch Frankreich, Großbritanniens und der USA) gelegen, die industrielle Revolution verpasste und schnell zum wirtschaftlichen Armenhaus des Kontinents wurde und zum Lieferdienst von Agrarprodukten. So ist die wirtschaftliche Differenz mit Zentral und Westeuropa im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht kleiner geworden und auch heute noch liegen die Staaten Südosteuropas, trotz zahlreicher Aufnahmen in die Europäische Union, weit hinter den ökonomischen Mächten Europas zurück.
Wer mehr über Südosteuropa und seine wechselvolle, aber stets spannende Geschichte erfahren will, dem sei dieses sehr gut geschriebene Buch von Marie-Janine Calic wärmstens empfohlen.