Bernhard Haber ist ein schweigsamer und schulisch leistungsschwacher Schüler. Trotzdem hat er eine beachtliche Präsenz, niemand in der Klasse würde sich mit ihm anlegen, obwohl man es allzu gern täte, denn ein Merkmal ist es, das ihn scheinbar am besten beschreibt und gleichzeitig zum großen Außenseiter macht, in den 1950er Jahren im kleinen fiktiven Städtchen Guldenberg an der Mulde: er ist ein aus Schlesien vertriebener Umsiedler.
In Christoph Heins 2004 erschienenen Roman „Landnahme“ wird ein Großteil des Lebens eines Vertriebenen erzählt, der noch in Kindheitstagen aus Breslau nach Sachsen kommt, mit einem behinderten, einarmigen Vater, der als Tischler kaum mehr arbeiten kann und deren gemeinsam größtes Problem vielleicht nicht einmal die große Armut ist, in welcher sie leben, sondern das sie keine Heimat mehr haben und das der neue Lebensort sie argwöhnisch und feindlich begrüßt und ihnen klar machen möchte, ihr seit hier Fremde – und Fremde sind nun mal keine Einheimischen.
Heins Roman besteht aus fünf Erzählungen von Wegbegleitern Bernhard Habers, der als Ich-Erzähler im ganzen Roman nie vorkommt. Wir erfahren vielmehr vom Klassenkameraden Thomas Nicolas etwas über seine Kindheit an der Schule und mit Marion Demutz spricht Bernhards erster Liebe. Peter Kollers Schicksal wird verknüpft mit den Jugendsünden von Haber und Katherina Hollenbach wirft einen Blick auf das Eheleben während abschließend Sigurd Kitzerow die wirtschaftliche Entwicklung von Haber nachzeichnet. Das alles passiert immer aus der Perspektive des Erzählenden, dessen Leben man genauso als Leser präsentiert bekommt, wie das von Haber. Der Roman entwickelt ein großartiges Panorama, dass sich den Komplexen Heimat, Fremdheit und Identität widmet, wobei Haber aus den fünf Erzählungen immer wieder anders erscheint und auch die Erzählenden immer wieder anders ihr eigenes Leben und ihre eigene Heimat beschreiben. Lediglich ein Sachverhalt verbindet das Leben Habers, bis spät ins Alter, wird er immer noch als Fremder in seiner neuen Heimat gesehen, einen „Makel“ den er scheinbar nie ganz loswerden wird, auch wenn er mit der Zeit verblasst. Die Stärke des Buches liegt darin, kulturelle Muster und eingeschliffene Denkweisen an konkreten Handlungen von Personen aufzuzeigen. Das macht „Landnahme“ zu einem Roman über die DDR, der sich mit den Einstellungen seiner Bürger beschäftigt, weniger mit einem über sie gestülpten System. Es geht hier nicht um große politische Systeme, die auf die Menschen wirken, sondern mehr um die Handlungsweisen der Menschen untereinander. Heimat so zeigt uns dieses Buch sehr schön, ist ein exklusives, schützenswertes aber auch umkämpftes Gefühl nach einem Ort im Leben, etwas was man in Liedern gemeinsam besingen kann und manchmal mehr noch etwas, das man nicht abgegeben kann und abschotten möchte.
So umfangreich dieses Thema erscheint, so schnörkellos, manchmal amüsant, manchmal tragisch, aber immer sehr feinfühlig im Wechselspiel der verschiedenen Erzähler erzählt „Landnahme“ vom kleinen Örtchen „Guldenberg“ und von der DDR. Nicht nur das beste Buch, dass ich bisher von Christoph Hein gelesen habe, sondern auch heute noch ein brandaktuelles Thema.