Nach 60 Folgen ist die abschließende Frage erlaubt, was für eine Serie ist „The Wire“ eigentlich? Sie scheint in kein wirkliches Raster zu passen. Man kann sich fürs Erste dieser Frage gut nähern durch die Feststellung was, „The Wire“ nicht ist.
Sie ist keine Familienserie. Keine Familie als menschlicher Letzthalt und Entität spielt für „The Wire“ eine bedeutende Rolle. Auch wenn innerhalb der Serie einige Familien beziehungsweise Partnerschaften entstehen, wie McNulty und Beadie Russell oder Daniels und Paerlman, so stehen im Mittelpunkt der Serie immer Einzelpersonen, die zwar durch Liebe, Freundschaft oder Feindschaft miteinander interagieren, aber letztendlich allein ihren Weg gehen. Zwar kann der Barksdale Clan als Familie betrachtet werden, aber auch hier ist festzustellen, dass Familie weniger heißt einen Rückhalt zu geben, als einen zum für die Gemeinschaft relevanten Handeln zu bewegen. So geht es „The Wire“ weniger um die Sicherheit von Menschen, als um ihre Bewegung. Sie schaut danach wohin man geht und warum, sowie was einen treibt. Soziologisch betrachtet, ist sie eine Beschreibung der Mikroebene und deren Konsequenzen auf der Makroebene (keine Sorge, weitere soziologische Vergleiche lasse ich jetzt sein).
Sie ist keine Serie über Gut und Böse? „Breaking Bad“ ist eine Serie die seziert wie das Böse in uns entsteht, der Fokus bei „The Wire“ ist ein anderer. Es gibt nur ein Betrachten von Charakteren, die einen mal abstoßend unsympathisch sind, mal aber auch wieder ans Herz wachsen, die manchmal Gutes tun und manchmal schreckliche Dinge. Die Serie ist insofern keine Serie die klar zwischen Gut (Polizei) und Böse (Drogenhändler) aufteilt, sie beschreibt viel mehr Handlungen, die Absichten die ihre Charaktere leiten und entzieht sich klaren Wertungen. So wird aus Bodie von einem karrieregeilen Eckenjungen, der für seinen Boss tötet (Böse!), der letzte Überlebende eines nicht mehr existierenden Clans, der um sein Überleben kämpft, in einer immer roher und tödlich werdenden Drogenwelt, die er mehr und mehr verabscheut, in der er aber gefangen ist (Gut?). „The Wire“ überlässt dem Zuschauer das Urteil, dieser soll entscheiden ob beispielsweise McNultys Erfinden von Obdachlosenmorden etwas Böses ist (so wie Daniels es sieht) oder etwas Gutes (so wie Freamon es sieht). Jede Tat scheint nie wirklich nur Gut oder Böse zu sein, sie hat Konsequenzen und die können durchaus unterschiedlich aufgefasst werden. Das ist eine der großen Stärken der Serie.
Damit nähern wir uns den Fragen, was „The Wire“ ist.
Sie ist eine Drogenserie. Wenn „The Wire“ ein Thema wirklich konstant durchhält, so ist das die Drogenproblematik. Drogen sind aber nicht nur Thema, um einen Gegenpol zur Polizei zu konstruieren und ihr quasi ein Ziel zu geben, sondern sie werden lebensweltlich dargestellt. Von der Frage angefangen, wie werden Drogen beschafft und verkauft (die Darstellung der Drogenclans) bis zur Frage was machen Drogen mit dem Leben von Leuten die sie konsumieren (dargestellt in der Figur des Bubbles). „The Wire“ wird damit auch eine Serie über die vergessene Unterschicht Amerikas, sie verspottet die Fokussierung auf den Kampf gegen Terrorismus und zeigt wo die eigentlichen Probleme des Landes liegen, wo die Vergessenen leben, die keine Aufmerksamkeit bekommen. Auch wenn erst ab der 3.Staffel die Politik des Rathauses eine wichtige Rolle spielt, so ist sie doch schon von Anfang an eine politische Serie.
Sie ist eine Krimiserie über eine Spezialeinheit. „The Wire“ beleuchtet die Polizeiarbeit und ist eine Krimiserie, in der Verbrecher hochgenommen und verhaften werden. Soweit ein bekanntes Muster. Es wechseln sich aber nicht nur die konkreten Fälle ab, auch die dafür am Anfang der Serie gegründete Spezialeinheit wird mehrfach aufgelöst oder umgebaut, steigt im Einfluss oder sinkt in die Bedeutungslosigkeit ab. Diese Einheit ist wie aber die unsichtbare Hand, welche die Logik der polizeilichen Handlungen (und damit der Krimi-Serie „the Wire“) führt und die natürlich auch namensgebend für die Serie ist („The Wire“, also das „Kabel“ steht für „Abhören“ bzw. „verkabeln“). Dabei wird das Abhören durchaus positiv dargestellt und die rechtlichen Regeln als Behinderung für die Lösung eines Falls. Ob man das heute in der Post-Snowden Ära wieder so darstellen würde ist Spekulation.
Sie ist eine Serie über Baltimore. Mehr noch als jede andere mir bekannte Serie ist „The Wire“ das Portrait einer Stadt. Sie verleiht der Stadt einen Charakter, ein Flair aus Niedergang, harter Arbeit, Drogenhochburg, kämpfen ums Überleben, Mord, Hafenstadt, schwarzes Amerika, multiethnische Gesellschaft, Korruption und Heimat, die es trotzdem für alle Figuren ist und die zu verlassen keine wirkliche Alternative ist. So kann man dem TIME Magazine recht geben, wenn es schreibt, „no other TV show has ever loved a city so well, damned it so passionately, or sung it so searingly“. „The Wire“ setzte Baltimore ein Monument, kein Hübsches vielleicht, aber ein höchst interessantes, ja man möchte sagen ein zu tiefst Beeindruckendes.
Vielleicht noch einige Wörter zur Struktur der Serie, denn auch diese ist sehr anspruchsvoll. Alle Folgen beginnen immer mit einem sogenannten „Cold Open“, also einem direkten Sprung in die Handlung. Bei „The Wire“ muss das aber nicht dramatisch sein, es passieren dabei keine Morde, oder Figuren sterben (anders bei „Six Feet Under“, wo jede Folge mit einem Todesfall beginnt). Danach beginnt das Intro das aus einer Reihe schneller Schnitte basiert (ganz im Gegenteil zur späteren Handlung), bei der zwar Szenen aus dem weiteren Episoden gezeigt werden, aber Gesichter nicht zu erkennen sind. Der Titelsong bleibt zwar, anders als die Zusammenschnitte des Intros von Staffel zu Staffel gleich, aber er wird jeweils von einem anderen Sänger in einer anderen musikalischen Form interpretiert. Der Abspann ist bei jeder Folge gleich, interessanterweise verzichtet „The Wire“ aber größtenteils auf Cliffhanger, also auf offene Handlungen, die in der nächsten Folge fortgesetzt werden. Am Ende einer jeden Staffel kommt es zu einem zwei bis drei minütigen Ausblick, wie die Handlung sich weiter spinnt, so gesehen kommt es auch nach der 5. und letzten Staffel zu einem Ausblick der dem Zuschauer zeigt in welche Richtung die Handlung sich fortbewegt. Daran ähnelt das Ende der Serie, dem von „Six Feet Under“ ist aber doch vollkommen anders, da „Six Feet Under“ einen Ausblick auf das weitere Leben bzw. den Tod der Hauptfiguren der Familie gibt, was aber bei „The Wire“ wegen der großen Fülle der Figuren unmöglich erscheint. Eher ist es als ein kurzer Zusammenschnitt zu verstehen, in welche Richtung sich die Entwicklungen in Baltimore bewegen.