Es ist Gründonnerstag und ich lese die Seiten 1300 und 1301 eines der besten Fachbücher, die ich in den letzten Jahren las, Jürgen Osterhammels „Die Verwandlung der Welt“, eine fulminante Geschichte der Welt des 19. Jahrhunderts. Ich habe Monate an diesem Buch gesessen, irgendwann im Herbst des letzten Jahres begonnen, in einer Zeit als meine persönliche Welt ebenso normal schien, wie die Globale.
Jetzt ist es Ostern 2020 und ich habe das Gefühl, die dynamischsten Wochen und Monate meines Lebens zu erleben. Vielleicht dreht sich die Welt bald wieder langsamer, vielleicht nicht, dass kann ich nicht sagen, nur den Blick zurück kann ich werfen und sagen, kein anderes Buch hat mich je durch so tiefe Täler begleitet. Hätte man mir je gesagt, dass ich dieses Buch nicht zu Lebzeiten meines Vaters beenden werde, wäre ich davon ausgegangen, dass ich das Buch einfach nie beendet hätte. Doch ich habe es letztendlich getan und bin in einer Zeit angekommen, wo man seine Heimatadresse nur noch 15km weit verlassen kann, man in Supermärkten besser einen Mundschutz trägt (und sich fragt, warum man nur zu einer Minderheit gehört, die das momentan macht) und seit 1989 erstmals wieder leere Regale in Einkaufsläden vorfindet, wobei man heute weniger von einer Mangelwirtschaft, als von Hamsterkäufen spricht. Aber genug der kleinen persönlichen Zeitgeschichte.
Wer tatsächlich einmal das Verlangen hat in die Vergangenheit zu blicken und das 19. Jahrhundert intensiv kennenzulernen, oder auch nur ein Geschichtsbuch lesen möchte, dass nicht weniger als den Anspruch hat, eine Globalgeschichte einer Epoche oder eines Jahrhunderts zu sein, der kommt an der „Verwandlung der Welt“ nicht vorbei. Ein Buch, dass alles verhandelt, was das 19. Jahrhundert zu bieten hatte bzw. heute in der Geschichtswissenschaft darüber verhandelt wird. Wie hat sich bis heute diese Epoche verewigt, wie kann man sie zeitlich eingrenzen, welchen Raum nimmt sie ein, wie beweglich waren die Menschen (welche Migrationsströme gab es, wer bewegte sich und wohin und wie frei?), welche unterschiedlichen Lebensstandards gab es, wie entwickelten sich die Städte und welche neuen Grenzen wurden von der Natur abgejagt, wie entstanden Imperien und welche Rolle spielten schon Nationalstaaten, welche Mächtesysteme und Kriege fanden statt und wie entwickelten sich innerhalb von abgesteckten Grenzen Staatsgebilde? Welche Rolle spielte die Industrialisierung, wie veränderte sich menschliche Arbeit, welche Infrastrukturen und globalen Netze entstanden und wie manifestierten sich soziale Hierarchien? Wie veränderte sich die Gewinnung von Wissen und welche Rolle spielte der immer populärere Gedanke von Zivilisation und welche Rolle spielte die Religion? Wer all das schon immer mal näher betrachtet haben wollte, der kommt an diesem Buch eigentlich nicht vorbei. „Die Verwandlung der Welt“ ist nichts anderes als ein MUSS, für jeden Leser, der ein Interesse an Geschichtsschreibung hat!