Warum habe ich eigentlich David Mitchel nicht schon viel früher mal gelesen? Bekannt ist er mir schon seit vielen Jahren, aber irgendwie lag nie ein Buch vor mir. Jetzt endlich bestellte ich „Chaos“, Mitchells ersten Roman aus dem Jahr 1999, dass Teil meiner Sommerbibliothek werden sollte.
„Chaos“, dessen englischer Originaltitel „Ghostwritten“ für den Großteil des Buches besser passt, als die deutsche Kreation (wenn man das Buch beendet hat, dann kann man sich auch mit dem deutschen Titel anfreunden) ist ein Roman, der aus neun längeren Geschichten (und einer sehr kleinen Abschließenden) besteht. Diese Storys sind für sich recht vielfältig und teilweise wundervoll geschrieben. Wir erleben einen Terroristen auf der Flucht, eine junge Liebe in Tokyo, einen mitgenommenen Bänker in Hongkong, eine Reise durch die Mongolei, eine von ihren Reizen überzeugte Museumswärterin in St. Petersburg, einen Musiker und Ghostwriter in London der Erfolg bei den Frauen, aber kein Geld hat, eine Wissenschaftlerin auf der Flucht auf einer einsamen irischen Insel und eine Radiotalkshow in der Nacht New Yorks.
Alle diese Geschichten sind für sich genommen schon wundervolle Erzählungen. Sie sind alle in der Ich-Form geschrieben und lassen den Leser in unterschiedlichste Personen eintauchen, die zwar nicht immer sympathisch, aber jederzeit eine spannende Geschichte zu berichten haben. Dabei erleben sie Liebe, Hass, Gewalt, Erleuchtung oder Enttäuschung.
Zusätzlich ist Mitchell ein hervorragender Beobachter und Beschreiber von Orten und man lernt viel über die Städte und Plätze, die er in „Chaos“ einbaut. Er schafft es auch wundervoll komische Passagen mit Tragik und Spannung abzuwechseln, was dieses Buch sehr, sehr kurzweilig werden lässt. Hier nur ein kleines Beispiel, was genauso zeitgemäß, wie witzig ist (S.523; Beginn des Kapitels „Night Train“):
„Willst du hören, wie sie den Virus in der Welt verbreiten, Bat?“
„Ich höre nur die Sirenen der Realitätspolizei, Howard.“
„Lass mich bitte ausreden! Die Zukunft Amerikas hängt davon ab! Was ist ihr wichtigstes Exportgut, Bat?“
„Das Groß der Fachleute sagt ‚Öl‘, Howard.“
„Das wollen sie uns weißmachen! Reine Propaganda! Nein, kein Öl sondern…“
„Die Realitätspolizei tritt unten die Tür ein, Howard. Sie haben einen Haftbefehl.“
„Du musst die Menschen waren, Bat. Das Ende naht.“
„Das Ende ist schon da, Howard, vielen Dank für deinen Anruf und…“
„CASHNEWNÜSSE! SIE VERBREITEN IHN ÜBER CASHNEWNÜSSE!“
Das Besondere aller Geschichten ist, dass sie alle, wie mit einem kleinen und nur manchmal bemerkbaren Netz verwoben sind, obwohl die Storys komplett unterschiedliche Handlungsstränge haben, teilweise sogar verschiedene Genre zuzuordnen sind. Vielleicht ist die Struktur des Romans vergleichbar eines Spinnennetzes im Morgentau, das aus einigen Blickwinkeln sichtbar, aus anderen unsichtbar bleibt, manchmal flimmert und manchmal ganz deutlich ist. So blitzen immer wieder Informationen aus anderen Kapiteln auf, die uns nicht nur mehr über die schon kennengelernten Figuren zeigen, sondern auch die vielen kleinen Mikroebenen zu einer großen globalen Makroebene vereinen, was sich insbesondere in den letzten beiden Storys mehr und mehr zeigt.
„Chaos“ ist ein absolut fantastisches Buch, ein herausragend geschriebenes Werk, dessen Unterschiedlichkeit bei gleichzeitiger Einheitlichkeit ebenso zum Weiterlesen verführt, wie sein Witz, und seine fast 600 Seiten reichende seine Spannung. Ein weiterer Kandidat für das Buch des Jahres!