Jonathan Franzens Weltruhm begann um die Jahrhundertwende mit seinem Roman „Die Korrekturen“. Dies war aber schon sein dritter Roman, die beiden Vorgänger, „Strong Motion“ und „Die 27ste Stadt“ erreichten bei weitem nicht so ein großes Publikum. Aber das ist etwas ungerecht, denn beide Bücher verdienen Beachtung. Da ich „Strong Motion“ schon vor vielen Jahren durchlas, fiel meine Aufmerksamkeit auf Franzens Debüt aus dem Jahr 1988, dass erst durch den Erfolg der „Korrekturen“ ins Deutsche übersetzt wurde und daher hier 2003 herauskam.
Wie bei all seinen Romanen ist „Die 27ste Stadt“ die Geschichte einer Familie. Wir teilen das Schicksal der wohlbegüterten Probsts. Da haben wir Tochter Luisa mitten in ihrer Teenager Zeit, die der Langenweile zu entkommen versucht und sich abkapseln möchte, oder Mutter Barbara, die sich in die Rolle der Hausfrau gelebt hat, in ihre eigene kleine Welt, äußerlich zutiefst zufrieden mit ihr und wir haben Vater Martin Probst. Dieser ist Bauunternehmer und seine Firma schuf einst den Gateway Arch, das berühmteste Bauwerk der Stadt St. Louis. Seine Unternehmen läuft recht erfolgreich und Martin leitet nebenher den städtischen Wachstumsverein, so etwas wie die inoffizielle Regierung der Stadt, ein Kreis aus einflussreichen Persönlichkeiten aus St. Louis, genau jenem Ort, der wie fast kein anderer im Niedergang begriffen ist. Einst Dreh- und Angelpunkt der USA und fünftgrößte Stadt des Landes, ist St. Louis 1984 (dem Zeitpunkt der Handlung) zur 27. größten Stadt geworden und hat über die Hälfte seiner Einwohner verloren (auch heute ist dieser Niedergang noch zu bemerken, mittlerweile ist St.Louis-Stadt nur noch die 58. größte der USA). Trotzdem macht sich so etwas wie ein Aufbruchgefühl breit, denn seit dem Sommer gibt es eine neue Polizeichefin in der Stadt, S.Jammu. Die halb Amerikanerin und halb Inderin, muss sich zwar vielen Vorurteilen aussetzen, doch ihre Erfolge beim Aufräumen mit der Kriminalität sind erstaunlich, wenngleich hinter vorgehaltener Hand nicht unumstritten. Jammu scheint hinter den Kulissen an einer riesigen Verschwörung zu arbeiten, um alle Fäden in der Stadt in ihrer Hand zu halten und Martin Probst ist dabei ein höchst nützliches Puzzleteil.
Franzens „27ste Stadt“ ist sowohl das Porträt einer Familie, als auch das Bild einer Stadt. Und es ist die Geschichte von Lokalpolitik und großer Intrige, Macht und Liebe. Wie alle seine Bücher liest sich auch dieser Roman fließend und ist teilweise sehr spannend. Die Strahlkraft von den „Korrekturen“ oder die intelligente Schärfe von „Freiheit“ fehlen der „27sten Stadt“ und auch über das Ende kann man geteilter Meinung sein, aber die 670 Seiten sind trotzdem sehr lesenswerter Schmöcker, der nicht zuletzt eine Stadt in den Mittelpunkt stellt, die ähnlich wie Baltimore oder Detroit zu den Verlierern in den USA gehören.