Ich tue mich immer schwer damit, dass Buch zum Film zu lesen, wenn ich den Film schon kenne. Das gilt natürlich umso mehr, wenn das Buch nach dem Film kommt, aber auch wenn nur der Film auf einem Buch beruht, bin ich meistens nicht dazu bereit mir etwas zweifach zu rezipieren.
Im Fall von David Mitchell konnte ich da aber getrost eine Ausnahme machen, was nicht nur daran liegt, dass der Film „Cloud Atlas“ von den Wachowski Geschwistern und Tom Tykwer in meinen Erinnerungen ziemlich verschwommen ist, sondern viel mehr daran, dass ich mit Mitchell einen weiteren Autor gefunden habe, dessen Werke ich mit größtmöglicher Begeisterung lese. „Der Wolkenatlas“, welcher 2004 als sein 3.Roman veröffentlicht wurde, gilt dabei für viele Leser als sein Hauptwerk.
Der Wolkenatlas besteht, ähnlich wie Mitchells Debütroman „Chaos“, aus mehreren Geschichten, die vollkommen unabhängig voneinander funktionieren, aber auf sehr feinen Pfaden miteinander verbunden sind. Als erstes fällt dabei die Struktur des Romans ins Auge, die man bogenförmig beschreiben könnte. Es werden 6 Geschichten erzählt, die sich in ihrer Erzählreihenfolge spiegeln und außer der 6.Geschichte daher zwei Teile haben. Die erste Geschichte, „das Pazifiktagebuch des Adam Ewing“ steht damit am Anfang (1.Teil) und am Ende des Romans (2. Teil der Geschichte). Notwendigerweise wird damit die in der Mitte des Romans stehende Geschichte „Sloosha’s Crossin“ in einem einzigen Teil erzählt. Spannend ist auch, dass die Erzählungen sich chronologisch in einem sehr weiten Zeitrahmen bewegen und sich gleichzeitig wie in einem Bogen von der Vergangenheit in die Zukunft und von dort zurück in die Vergangenheit bewegen. Auch nicht unerwähnt soll bleiben, dass sie jeweils einen andere Form der Erzählung haben. Das schon erwähnte Pazifiktagebuch spielt um das Jahr 1850 herum und ein destingierter Notar aus San Francisco bereist den Pazifischen Ozean, da er eine Testament in Australien zu klären hat. Auf seiner Rückreise strandet Ewing auf den Chatham Inseln und lernt nicht nur den Arzt Adam Goose kennen, sondern auch die Welt der Ur-Einwohner der Moriori. Die zweite Geschichte sind Briefe, die der junge Musiker Robert Frosbisher seinem Freund Rufus Sixsmith schreibt. Weil Frosbishers finanzielle Situation im Jahr 1931 ausweglos erscheint, versucht er sein Glück und bewirbt sich als Assistent des altersmüden und von der Syphilis stark beeinträchtigten Komponisten Vyvyan Ayers, der seinen Lebensabend auf Schloss Zedelghem in Belgien verbringt. Die dritte Geschichte ist ein Kriminalfall für die junge Reporterin Luisa Rey, die in der fiktiven kalifornischen Stadt Buenas Yerbas Mitte der 1970er Jahre auf einen vertuschten Sicherheitsmängel-Bericht über ein neues Kernkraftwerk aufmerksam wird. In der vierten Geschichte lauschen wir dem Bericht des Verlegers Timothy Cavendish, der irgendwann in der Gegenwart, erstmals in seiner durchaus langen Karriere einen massiven finanziellen Erfolg mit einem von ihm herausgegebenen Buch feiern kann, allerdings birgt das neue Geld auch viele Gefahren. Mit der 5.Geschichte reisen wir in eine ziemlich entfernte Zukunft und lesen ein Verhörinterview, das mit dem Klon Sonmi~451 geführt wird. In dieser Dystopie arbeiten Klone für die „reinblütigen“ Menschen und werden bewusst als Arbeitssklaven gehalten, um alle möglichen Tätigkeiten auf der Welt auszuführen. Sonmi jedoch unterscheidet sich von den anderen Duplikanten, denn sie ist kein auf Arbeit getrimmter Sklave, sondern reflektiert ihren Zustand und ist extrem wissbegierig, mehr über die Welt zu erfahren. Noch viel weiter in der Zukunft liegt die letzte Geschichte, in welcher wir in einem Welt geraten, in welcher die Menschheit technologisch und zivilisatorisch zurück in die Steinzeit geschleudert wurde. Auf Hawaii leben verschiedene Stämme, wobei die kriegerischen Kona immer wieder mit räuberischen Ausflügen die anderen Bewohner der Insel dezimieren. Der Ziegenhirte Zachery erzählt rückblickend seine Lebensgeschichte, die einen Wendepunkt bekommt, als die ältere Frau Meronym seine Heimatinsel betritt. Sie gehört einer letztendlich kleinen verbleibenden Menschheitsgruppe der „Prescients“ an, die noch einen gewissen technologischen Vorsprung gerettet haben und das Leben der einfachen Menschen studieren will.
Alle Geschichten lesen sich komplett unterschiedlich und werden immer getragen von ihren Protagonisten. Immer hat die Geschichte des Vorgängers dabei eine entscheidende Rolle für die Folgegeschichte, angefangen von Frobisher, der das Tagebuch von Ewing liest bis hin zu Zachery, der Sonmi für einen Gott hält. Daraus ergibt sich dann eine Art von Zivilisationsgeschichte der Menschheit, von der Frage, wie sich weiße Männer mit europäischem Hintergrund im 18. Jahrhundert als Überlegen über den Rest der Welt betrachteten bis hin zur Frage, was vom Menschen einmal übrig bleibt, die Kooperation oder der Kampf oder vielleicht beides? Dabei stecken hinter diesen anthropologischen Fragen aber auch die Geschichte von menschlichen Schicksalen und man kann den Wolkenatlas lesen, als eine Seelenreise, der die Umrisse von dem zeichnet, woher wir kommen, was wir sind und wohin wir gehen könnten.
Wer sich tatsächlich für eine Aufstellung verschiedener Wolkenformationen interessiert, denn sei dieser Cloud Atlas empfohlen.