Vor einiger Zeit hörte ich im Deutschlandfunk eine Lesung von Christoph Heins Roman „Verwirrnis“. Eine Neugier auf dieses Buch spross in mir, wenngleich nur latent und in diesem Sommer wurde der 2018 veröffentlichte Text in meine Sommerleseliste aufgenommen. Tatsächlich sind schon einige Bücher dieser Liste abgelesen und man kommt nicht umhin festzustellen, dass die Hälfte des Sommers schon wieder vorbei ist.
Gerade noch war es Ende April und der Gartentisch wurde auf dem Balkon zum Abendessen erstmals festlich mit Sushi gedeckt, schon werden die Tage wieder kürzer und das Wetter zeigt schonmal, wie es im Herbst sein könnte. Noch ist der Sommer aber nicht abgeschrieben und die Leseliste hält noch einige Bücher parat, aber mit dem hereinbrechenden August wird uns gewahr, dass jeder Sommer, wie jedes Jahr, wieder zu kurz ist.
Den Ablauf der Zeit bekommen wir als Leser auch in „Verwirrnis“ zu spüren, in welchem wir die Lebensgeschichte von Friedeward Ringeling miterleben. Geboren am 1.September 1933, wächst er im Krieg auf, ist aber noch zu jung, um an ihm militärisch teilzunehmen. Trotzdem leidet er, wie auch sein Bruder Hartwig und seine Schwester Magdalena, insbesondere unter der brutalen Strenge des streng religiösen Vaters Pius, der insbesondere seine beiden Jungen mit einem Siebenriemer körperlich züchtigt, auch noch bis die die Jugendlichkeit hinein. Das führt dazu, dass Hartwig, so schnell er kann die Heimat Heiligenstadt (welche nach dem Krieg zur DDR gehören wird) verlässt. Auch die ältere Schwester Magdalena flüchtet aus dem vom Vater vergifteten Haus und heiratet den erstbesten Mann, der ihr begegnet. Der junge Friedewald bleibt allein zurück und entwickelt einen tief in ihm manifestierenden Hass auf seinen Vater. Jedoch ist es nicht nur dieser Hass, der ihn prägt, gleichzeitig übernimmt er auch die Regelhaftigkeit, Disziplin, und die konservativen Konformitäten, welche ihm sein Elternhaus und die Gesellschaft der jungen DDR mitgeben. Mit diesem eingeschriebenen Orientierungsrahmen, stößt in der 11.Klasse ein neuer Mitschüler in sein Leben; Wolfgang Zernieck. Friedewald entdeckt etwas in sich, dass sein gesamtes Umfeld nicht wissen darf, denn er liebt Wolfgang und Wolfgang liebt ihn.
„Verwirrnis“ ist die Geschichte von „geheimer Liebe in unruhigen Zeiten“, wie der Buchrücken meint. Konkret ist es die Erzählung eines homosexuellen Mannes, der geprägt wurde von der körperlich ausgeteilten Gewalt seines Vaters (der es selbstverständlich „nur gut meinte“), die sich angeblich auf moralische Werte der Religion beruft und einer jungen DDR-Gesellschaft, die sich modern gibt, aber gleichfalls von großer Unfreiheit und Verlogenheit geprägt ist. Es sind diese eigenen Orientierungsrahmen und die Rahmen seiner Umwelt, die seine eigene Freiheit, seine Liebe und seine Sexualität immer wieder beschränken, gegen die er nicht ankämpft, sondern sich mit und in seinem Leben arrangiert. Was Friedewald bleibt ist die Maske des ehrenwerten Gelehrten, bei einem gleichzeitigen, fast übermächtigen Alleinsein seines Lebens. Die Geschichte Friedewalds ist die eines, der sich niemals trauen wird, frei seine Sexualität Preis zu geben. Ständig lebt er in der Angst für das was er ist erkannt und gedemütigt zu werden. Erschwerend kommt in dieser Biographie hinzu, dass es nur einen Menschen im Leben gibt, den er wirklich als Freund bezeichnen wollte, „denn Wolfgang Zernick war lebenslang sein einziger wirklicher Freund geblieben, keine spätere Bekanntschaft hatte je wieder diese Innigkeit mit sich gebracht, diesen beglückenden Gleichklang, diese Leichtigkeit im Beisammensein.“ (S.294), doch das Leben mit Wolfgang verläuft nicht ohne Verluste.
Christoph Hein liefert in seiner gewohnten und von mir hoch geschätzten Art des nüchternen Protokollanten, eine weitere Biografie eines DDR-Bürgers und gleichzeitig wieder ein Panorama der (zumeist frühen DDR-Gesellschaft). „Verwirrnis“ beschreibt einen Menschen, der einerseits zu einem sehr respektierten und von vielen geschätzten Mitglied der Gesellschaft wird, der aber immer mit dem Druck lebt, nur Teile seines Lebens frei leben zu können. Vielleicht ist an diesem Roman etwas irritierend, dass die Erzählung große Teile der Jugend und des Studentenlebens der Hauptfigur detailliert beschreibt, dann aber immer schneller in der Zeit springt und man tatsächlich etwas das Gefühl bekommt, durch die späteren Lebensjahrzehnte zu sprinten. Was dann auch das Ende der Geschichte so wirken lässt, als müsste es auf die beschriebene (und natürlich hier nicht gespoilerte) Konstruktion herauslaufen, wenngleich damit die durchaus zutreffende Pointe gesetzt wird, dass die Bewertung von DDR-Biografien im wiedervereinten Deutschland in ihrer groben Vereinfachung, gleichfalls zu großen Verwirrnissen und Zerrüttung führte. Es ist Heins großes Werk der letzten Jahre, immer wieder nicht nur über die DDR zu schreiben, sondern eben diese Geschichte in unserer Gegenwart ankommen zu lassen und ich kenne niemanden, der auch nur annähernd dabei diese Meisterschaft entwickelt hat, wie Christoph Hein.