aus der Reihe: aus fremden Regalen
veröffentlicht 2012 unter dem englischen Originaltitel: „Dear Life“| deutsche Übersetzung von Heidi Zernig erschien 2013 bei Fischer | hier gelesen in der Taschenbuchausgabe mit 368 Seiten
Alice Munros Erzählband „Liebes Leben“ lag nun schon seit Jahren bei meiner Mutter im Regal, neu und ungelesen, einst von meiner Schwester geschenkt. Also mopste ich mir das Buch, um die kanadische Literaturnobelpreisträgerin von 2012 für mich zu entdecken. Das war kein schlechter Diebstahl, obwohl es eigentlich kein Diebstahl war, denn ich werde das Buch meiner Mutter sofort zurückgeben, allerdings unter der Begleitbemerkungen, dass diese Erzählungen wunderbare Literatur sind und unter dem optischen Eindruck, dass das Buch jetzt schon durchgelesen aussieht.
Bei „Liebes Leben“ sollte man vielleicht den Titel des Buches spezifizieren, denn es geht nicht um irgendwelche Liebesleben, sondern um die Anrede an das Leben im Allgemeinen, so wie wenn man einen Brief an das Leben schreiben würde.[1]
Munrows Geschichten durchleuchten zahlreiche Facetten des Lebens. Es geht um die Gestaltung des eigenen Lebensweges, um Beziehungen zwischen Menschen, um Freundschaft, um Liebe, um Eltern und Kinder, um Verwirrung, um Bleiben und Gehen.
Munrows Texte wirken der Zeit enthoben, sie spielen zumeist in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts, häufig ist vom Krieg die Rede und in diesem Zusammenhang ist meist der 2. Weltkrieg gemeint,[2] aber Zeit verknüpft sich hier nicht mit aktuelle gesellschaftlichen und politischen Lebenslagen, sondern sie fließt weiter, so wie unser aller Leben jeden Tag weiterfließt. In einigen von Munrows Geschichten kann man nicht sagen, ob die Handlung sich über Monate, Jahre oder Jahrzehnte ausdehnt. Das entlässt die Geschichten aus Engführungen, es reißt sie los von irgendeinem Zeitgeist. Trotzdem kann man politische Impulse finden und Ungerechtigkeiten erfahren. Munrow lässt jedoch offen, welche Qualitäten diese Strukturen heute noch haben, wodurch die individuelle Auseinandersetzung der Figuren mit der Welt im Mittelpunkt steht, nicht eine Ausgesetztheit in eine nicht verformbare Gesellschaft.
„Liebes Leben“ ist in diesem Zusammenhang ein Buch, das sehr dezidiert (starke) Frauen porträtiert und ihr Rollenbild, ihr Streben und ihren Individualismus reflektiert. Munrows Figuren leben in der ständigen Auseinandersetzung zwischen individuellen Wünschen und im Hintergrund laufenden gesellschaftlichen Konventionen. Sie veranschaulicht in großer Nüchternheit (was als hochgeschätztes Kompliment zu verstehen ist), dass unser aller Leben ein ständiges Aushandeln aus Wünschen, Ängsten, Normen, Träumen und vielen anderen Dingen ist.
Das Stilmittel der nüchternen Erzählung führt bei Munrow nie dazu, dass die Erzähler ihrer Geschichten steril oder unnahbar wirken, sondern immer schwingt auch etwas Ironie gegenüber der eigenen Geschichte oder der eigenen Erzählposition mit. Noch spannender und klüger werden Munrows Stories in ihrer individuellen strukturellen Verwobenheit. Fast nie wird eine Geschichte von Anfang bis Ende chronologisch abgehandelt. Oftmals finden sich Zeitsprünge nach vorn oder zurück und manchmal erfährt man erst am Ende einer Geschichte, was einem am Anfang der Erzählung kurz verwundert hat (so wie in „Zug“).
Zusammengefasst kann ich als Urteil über Munrows Erzählungen sagen, dass sie zum Besten gehören, was ich aus diesem Genre kennenlernen konnte, und ich möchte in wenigen Sätzen ganz kurz auf die einzelnen Geschichten eingehen.[3]
Der Band beginnt mit „Japan erreichen“, einer Geschichte, um eine Frau, die aus ihrem Leben ausbricht, weil sie einen Mann wiedersehen möchte. „Amundson“ dreht sich um eine junge Lehrerin, die in einer Tuberkulose-Kinderklinik zu arbeiten beginnt. „Abschied von Maverly“ handelt von einem Mann und der Betreuung seiner invaliden Frau, während Kies die Geschichte eines tragischen Unfalls und des Abschiednehmens ist. „Heimstatt“ ist eine Erzählung über ein Teenager-Mädchen, dass für eine Weile bei der konservativen Familie ihrer Tante leben muss und von der dort vorherrschenden Weltanschauung gleichzeitig abgestoßen und angezogen ist. „Stolz“ porträtiert eine etwas merkwürdige Beziehung zwischen einem heimatverbundenen Mann und einer Frau. „Corrie“ ist die Geschichte einer Affäre zwischen einem verheirateten Mann und einer jungen, wohlbegüterten Erbin. „Zug“ ist für mich, eine der schönsten Geschichten des Buches und handelt von einem Kriegsveteranen, der aus dem 2.Weltkrieg nach Kanada zurückkehrt, aber nicht in seine Heimatstadt fährt und vorher aus dem Zug abspringt. Er hilft bei einer Frau auf einer Farm aus, dessen Gebäude in einem desolaten Zustand ist. Der Soldat wird viele Jahre bleiben und das Haus verbessern, ohne dass beide ein Liebespaar würden. „Mit Seeblick“ ist die Beschreibung einer zunehmend verwirrter werdenden älteren Frau, die zu einem Arzt fährt und „Dolly“ ist eine Liebesgeschichte eines alten Paares, dass sich auf den gemeinsamen Abschluss ihres Lebens einrichtet, bei denen plötzlich eine Jugendliebe des über 80-jährigen Mannes auftaucht. Das von Munrow so bezeichnete „Finale“ bilden vier Geschichten („Das Auge“, „Nacht“, „Stimmen“ und „Liebes Leben“) die autobiographisch inspiriert sind und die über die Kindheit und Jugend von Munro in einem Haus am Rande einer kleinen Stadt in der kanadischen Provinz erzählen.
Besonders beeindruckend macht dieses Finale, weil es die letzten Zeilen sind, die Munro in ihrer schriftstellerischen Arbeit veröffentlicht hat. Munro, die am 10.Juli 2023 92 Jahre alt wird, hat nach „Dear Life“ angekündigt, keine Bücher mehr zu schreiben. Ihr letztes Werk wird für mich der Einstieg in die Welt der Erzählungen der einzigen Nobelpreisträgerin aus Kanada sein, deren Kurzgeschichten ebenso schön, wie klug und einfühlsam sind.
[1] Das ist keinerlei Vorwurf an die Übersetzung, wer dem halbwegs korrekten Lesen mächtig und zwei großgeschriebene Worte zu identifizieren in der Lage ist, kann sich der Semantik des Titels durchaus klar werden. Selbstverständlich würde ich diese Fußnote nicht schreiben, wenn dieser Prozess bei mir nicht etwas gedauert hätte.
[2] Ich habe gefühlt mehrfach nachschauen müssen, aber der Band kam tatsächlich erst 2012 heraus, aber durch die Bank alle Geschichten, spielen viele Dekaden vorher, auch wenn sich die Länge der Erzählzeit manchmal auf Jahrzehnte ausdehnt.
[3] Auch und insbesondere, damit ich mich später noch daran erinnern kann. Alle Verlinkungen beziehen sich auf die reichhaltigen Beschreibungen der Stories auf der deutschen Wikipedia-seite.