Alpen

Jahr: 2011 | Regie & Drehbuch: Giorgos Lanthimos | Drama | 93min

Lange stand schon „Alpen“ von Giorgos Lanthimos auf meiner Film-Watchlist und die Erweiterung meiner Möglichkeiten über das neue Filmportal Mubi, machte es nun möglich den Vorgängerfilm von „The Lobster“ zu sehen, einen fast schon Klassiker zu nennenden Film, den ich für einen der besten der 2010er Jahre halte.

Inhaltlich ist „Alpen“ gar nicht einfach zu beschreiben, denn der Zuschauer wird in eine Handlung geworfen, die sich erst langsam herauslesen lässt (und seien sie schon an dieser Stelle gewarnt, der Film zeigt überhaupt keine Berge!). Wir begleiten eine Gruppe von Amateur-Schauspielern, welche sich die „Alpen“ nennen. Als Dienstleistung bieten sie eine Trauerbegleitung an. Sie mimen die verstorbenen Personen, so dass die Hinterbliebenen eine Art von Substitut für ihren Verlust haben.
Eine Krankenschwester, die im Film nur Monte Rosa (Angeliki Papoulia) genannt wird, weil sich jedes der Mitglieder einen Namen eines Alpengipfels geben muss, verschafft der Gruppe neue Aufträge, in dem sie lebensbedrohliche Patienten studiert, wie eine junge Tennisspielerin, die nach einem Unfall in akuter Lebensgefahr liegt. Monte Rosa spielt aber auch bereits einige Rollen für Hinterbliebene, zum Beispiel für einen Lampenladenbesitzer (Efthymis Filippou, der übrigens mit Lanthimos das Drehbuch schrieb), der seine kanadische Frau verloren hat. Anführer der Gruppe ist Mont Blanc (Arvis Servetalis), ein Rettungssanitäter, der potenziell zu spielende Menschen quasi von Berufswegen her antizipieren kann. Die Gruppe trifft sich in einer Sporthalle, wo die junge Gymnastin (Ariane Labed) von ihrem herrischen Trainer (Johnny Vekris) zu gymnastischen Höchstleistungen angeleitet wird.

„Alpen“ ist ein anfangs etwas sperriger Film, weil man sich quasi erst in die Handlung hineinsehen muss und man die ganze Zeit das Gefühl hat, sehr eigenwilligen Schauspielübungen beizuwohnen, die so rein gar nicht realistischen menschlichen Handlungen entsprechen und recht gekünstelt wirken. Doch damit sind wir schon beim Kern des Filmes. Lanthimos inszeniert auf seine gewohnt leicht entfremdende Art, ein Thema, das einen schnell an Goffmans soziologischen Klassiker „Wir spielen alle nur Theater“ erinnert. Es geht um die Frage der Inszenierung des Lebens, vom Rollen spielen und von der Frage nach dem Kern des eigenen Selbst, wenn man immer nur Rollen spielt. Die Figur der Monte Rosa steht hier im Mittelpunkt, denn (Achtung SPOILER) sie scheint im Spiel gefangen zu sein und ihr Leben geht in den Rollen auf, die sie für andere aufführt. Für den Zuschauer wird es vollkommen unklar, was ihr wahres Leben noch ist, weil man sich bei keiner Szene sicher sein kann, ob das auch wieder nur eine Rolle ist. Umso länger der Film dauert, umso stärker wird dieses Gefühl, gefangen zu sein, in Rollen und sich selbst verloren zu haben, weil man die ganze Zeit immer nur Rollen für andere spielt.

Dieses sich steigernde Grundgefühl macht den tatsächlich etwas holprig zu schauenden Film im Nachgang zu einem sehr sehenswerten Streifen, der nicht nur eine Meta-Analyse des Schauspielens ist (also schauspielende Schauspieler, die über das Thema Schauspiel schauspielern), sondern sich grundlegend zeitgenössische oder vielleicht sogar anthropologische Fragen stellt. Beispielsweise: wie unsere Welt funktioniert, als Selbstdarstellung des Ichs, in Zeiten des insbesondere von sozialen Medien geförderten Widerspruchs, sich immer stärker authentisch inszenieren zu müssen. Oder etwas grundlegender; was das Annehmen von Rollen für unser menschliches Miteinander bedeutet und ob der Kern des eigenen Selbst vielleicht nichts substantielles ist, sondern nur eine Frage, wie man seine Rollen spielt.

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