Originaltitel: „Anatomie d’une chute“ | Jahr: 2023 | Regie & Drehbuch: Justine Triet (Buch mit Arthur Harari) | Justizdrama | Location: französische Alpen
Dieses Jahr bin ich in einer „Oscar-Laune“, was nichts anderes heißt, als dass ich versuche, möglichst viele Filme zu schauen, welche eine Nominierung oder gar einen Preis bei den diesjährigen Academy Awards erhalten haben. Mit fünf Nominierungen und einer Auszeichnung für das beste Drehbuch war der französische Film „Anatomie eines Falls“ der beste europäische Beitrag und nicht nur wegen der Nominierung für Sandra Hüller für die beste weibliche Hauptrolle, war dieses Justizdrama quasi noch ein Pflichtprogramm für meine „Oscar-Laune“.
Sandra Voyter (Sandra Hüller) lebt mit ihrem Mann Samuel Maleski (Samuel Theis) und ihrem sehbehinderten Sohn Daniel (Milo Machado-Graner) in einem ausgebauten Chalet in den Bergen der französischen Alpen. Während Sandra als Autorin gewisse Erfolge aufweisen kann, ist ihr Mann eher ein verhinderter Schriftsteller und es scheint, dass er etwas eifersüchtig auf den beruflichen Erfolg seiner Frau ist, denn er stört ihr Interview mit einer interessierten Studentin (Camille Rutherford) durch das Abspielen lauter Musik. Als der Gast das Chalet der Familie verlässt und der Sohn zu einem Spaziergang mit seinem Hund aufbricht, geschieht ein Unglück bei dem Samuel stirbt (das wir als Zuschauer aber nie zu Gesicht bekommen). Da nur Sandra im Haus ist, kreisen die Ermittlungen schnell um die Frage, hat sie ihren Mann umgebracht?
Ein Jahr später findet eine Gerichtsverhandlung statt, bei welcher Sandra von einem ehemaligen Freund (Swann Arlaud) anwaltschaftlich vertreten wird. Auf der Gegenseite fährt der Staatsanwalt (Antione Reinartz) schwere Geschütze gegen Sandra auf.
„Anatomie eines Falls“ ist ein außerordentlich guter Film! Er setzt sich von anderen Justizdramen ab, weil er Wahrheit hier nicht zu einer erreichbaren Zieleinheit macht. Viele Krimis lösen ein Rätsel auf und überführen den Mörder oder lösen die Unklarheiten eines Todesfalls auf. In Justine Triets Film wird aber schnell klar, dass die Wahrheit (vielleicht könnte man besser von Realität reden) eine Fülle von Eindrücken, Geschehnissen, Emotionen und Perspektiven ist und so ist „Anatomie eines Falls“ eher die Anatomie einer Familie und ihres Zerbrechens, als die Lösung eines Mordfalls (wir als Zuschauer werden am Ende des Filmes nie sehen, was sich wirklich beim Todesfall von Samuel Maleski zugetragen hat). Die Story des Filmes sucht nicht nach Beweisen für den Tathergang, sondern sie versucht aus Indizien des Familienlebens einen Schluss über Schuld oder Unschuld zu geben. Das macht den Film zu einem hervorragenden Beispiel dafür, mit welchen Methoden wir versuchen uns von Menschen (besonders in der Öffentlichkeit) ein Bild zu machen und wie sehr wir dabei auf mehr emotional und oberflächliches Image vertrauen, weil das gut in die Lesbarkeit der Welt passen könnte. Unterstützt wird diese Aussage des Films von einer großartigen Kamera, die nicht nur ästhetisch überzeugt, sondern auch durch ihre Führung das Thema des Films unterstützt. Vielleicht am eindrucksvollsten, als Daniel in den Zeugenstand tritt und der Junge sich in einem Sprachgewitter der Anwälte wiederfindet.
Genau diese Thematisierung der Sprache wird auch grundlegend vorgenommen. Sie findet sich beispielsweise darin, dass der Film im Original hautsächlich englisch ist (ärgerlicherweise habe ich den Film auf Deutsch gesehen, die Untertitel geben aber einen guten Aufschluss, über manche Sachverhalte, die in der Synchronisation nicht berücksichtigt werden konnten). So wird Daniels Name von der Mutter Englisch ausgesprochen, vom Rest der Welt aber Französisch. Sandra findet sich in einem Prozess wieder, der nicht in ihrer Muttersprache gehalten wird (werden kann), der aber über ihr Schicksal entscheidet, sie muss also nicht nur aufpassen, dass sie das Richtige sagt, sie muss dafür auch die richtigen Wörter finden. Ein Motiv, dass uns wieder zur Aussage des Films führt. Wie wollen wir Klarheit erzielen, wenn so viele Dinge nicht klar und verständlich, sondern nur annäherungsweise kommuniziert werden? Uns fehlt es nicht nur an Fakten und Kontext, es fehlt uns sogar an verständlichen Kommunikationsmöglichkeiten. Die Welt ist ein komplexes Konglomerat aus Fakten und Emotionen und es scheint so viel von beiden zu geben, aber trotzdem kann ein Sachverhalt höchst unterschiedlich betrachtet werden. Trotzdem ist letztendlich Verständigung möglich (oder im Fall des Films, ein Urteil), bei der wir am Ende darauf vertrauen müssen, dass wir den richtigen Weg erahnen.
Neben diesen weitreichenden und tiefgründigen Themen beeindruckt insbesondere Sandra Hüller im Film, wobei wir bei meiner „Oscar-laune“ angekommen wären. Wie Sandra Hüller in „Anatomie eines Falls“ spielt, ist ausdrucksstark und vielfältig, lässt der Rolle aber auch eine klingende Dunkelheit, die man als Zuschauer nur erfühlen kann (so etwas wie der Schatten des Verdachtes der Tat). Es ist bereits die zweite Schauspielerin (neben Carey Mulligan), der ich in diesem Jahr den Oscar eher überreicht hätte als Emma Stone (was absolut nicht despektierlich klingen soll, aber sowohl Mulligan, als auch Hüller interpretieren ihre Rollen schauspielerisch einfach beeindruckender, auch weil sie wahrscheinlich freier spielen konnten als Stone, die eher von der Provokation ihrer Rolle getragen wird). Aber nicht nur wegen Sandra Hüller ist „Anatomie eines Falls“ einer der großen Filme des Jahres.