Aus der Reihe „our pathetic age“
Der erste Eintrag unserer neuen Reihe „our patehtic age“ ist einem Beitrag gewidmet, der aus einem Fach stammt, für welches ich einst große Begeisterung besaß und nach dessen Re-Entry in meinem Leben mir wieder klar wurde, dass ich dieses Fach immer noch sehr schätze.
Es ist leider schon viele Jahre her, dass ich letztmals einen soziologischen Text las. Nach all der Beschäftigung mit anderen spannenden Feldern des Wissens ist es aber die Soziologie, welche quasi meinen Weg ebnete, wie ich auf die Welt schaue (wenngleich natürlich viele weitere Faktoren dafür gleichfalls von großem Einfluss waren, aber die Struktur des Sehens, hat mir die Soziologie angelegt). Was mich an der Soziologie schon seit dem Besuch meines ersten Seminars begeisterte, war die Themenstellung dieses Faches, zu zeigen, in was für Zeiten wir leben und wie das Zusammenleben der Menschen aktuell stattfindet. Die Soziologie ist dabei eines der allgemeinsten Herangehensweisen an diesen Fragenkomplex (sieht man von der Philosophie einmal ab) und das macht dieses Fach so spannend, so umfangreich, so kompliziert, manchmal so blumig, so abstrakt, so fantasievoll, so klar, so….
In was für Zeiten leben wir also? Was bestimmt unser Handeln und Tun? Welche Gesellschaft haben wir Menschen uns geschaffen? Antworten darauf zu finden, ist eine der Hauptaufgaben der Soziologie, weshalb sicherlich auch fachlich in der Soziologie nicht besonders bewanderten Geistern (wie mittlerweile auch mir) schnell Begriffe wie „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) oder „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze) einfallen, oder Niklas Luhmanns gewaltige Geschichte der Gesellschaft oder genauer, dessen was wir Gesellschaft nennen, als „Gesellschaft der Gesellschaft“.
Andreas Reckwitz legte 2017 eine Diagnose vor, die einen neuen Blick auf unsere zeitgenössische Gesellschaft legt, „Die Gesellschaft der Singularitäten“. Nach seiner Argumentation leben wir in einer spätmodernen Gesellschaft der Singularitäten, eine Struktur, die sich seit den 1970er Jahren immer weiter ausgebreitet hat. Diese Form ist für Reckwitz die dritte Ausformung der Moderne, nach der bürgerlichen Moderne und der industriellen Moderne. In dieser letztgenannten Zeitepoche, welche in der Mitte des 20.Jahrhunderts dominant gewesen ist, so argumentiert der Kultursoziologe, hat sich die Gesellschaft am Allgemeinen orientiert und am Zweck den Dinge (um es sehr vereinfacht wiederzugeben). Es ist die Zeit der „Etablierung der Massenproduktion“ (S.43), in welcher ein ingenieurhaftes und mechanistisches Weltbild die Menschen prägte, eine Welt der Techniker und Ingenieure, in der man alles als ein kontrollierbares System betrachten konnte, das aus austauschbaren Einzelteilen besteht. Es ist die Zeit, in der die Wohlstandsgesellschaft mit einem hohen Lebensstandard für alle möglich erscheint. In jener Epoche ist das „Individuum bemüht, sein eigenes Leben gemäß der Normalbiographie zu gestalten, mit klaren Stationen und als erstrebenswert vorgegebenen Zielen.“ (S.45)
Reckwitz greift damit die gängige Beschreibung der Moderne in der Soziologie auf und ordnet sie in die Praxis der formalen Rationalisierung ein, die ein übergeordnetes Strukturmerkmal der Gesellschaften sind. Alle Elemente des Sozialen (bei Reckwitz sind das Subjekte, Objekte, Ereignisse, Räume und Kollektive) durchlaufen immer wieder diesen Strukturprozess der Standardisierung und Generalisierung und liefern damit Effizienz und Berechenbarkeit.
Im letzten Viertel des 20.Jahrhunderts verändert sich jedoch das gesellschaftliche Leben, zuerst diffundierte es von den USA nach Europa und von dann in den Rest der Welt. Es ist der „Take-Off der großflächigen Singularisierung und Kulturalisierung“, der sich aus drei Strängen erklären lässt, dem „Aufstieg des Kulturkapitalismus, dem Siegeszug der digitalen Medientechnologie und der postromantischen Authentizitätsrevolution in der neuen Mittelklasse“ (S.19) Diese Dinge bedürfen genauerer Erklärung.
Vergleichen wir dafür unser Leben, mit dem Leben unserer Eltern oder Großeltern. Diese lebten, wenn man es grob verkürzt, nach einem gesellschaftlichen Muster, einer Art Backform des Lebens, darstellen möchte, in einem Zeitalter, dass den „guten“ (effizienten und berechenbaren) Lebensweg vorwegnahm. Es gab einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, welche allgemeinen Werte der Gesellschaft und dem Leben nützlich, dienlich und erstrebenswert waren. Beispielswiese; einen stabilen und lukrativen Job finden, mit einem Partner fürs Leben Kinder in die Welt setzen, einen Bausparvertrag aufnehmen und ein Haus bauen, mit jedem Neuwagen sich ein Stück zu „verbessern“ und so, seine Rolle im Leben finden.[1]
Demgegenüber hat sich heute ein neues Leitbild durchgesetzt, dass nicht mehr in der Erfüllung von für die Allgemeinheit geltenden Inhalten, Normen und Regeln besteht, sondern das nach Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit des Menschen strebt, anders formuliert, statt Stromlinienförmigkeit geht es nun um Ecken und Kanten. Die soziale Logik goutiert nicht mehr nach dem Allgemeinen, sondern dem Besonderen. Schon auf den ersten Blick fallen hier tausende von Beispielen auf; das Foto, das die besondere Situation im Leben auf Instagram den „Followern“ präsentiert wird und das sowohl dem Ereignis, als auch dem Abgebildeten einen besonderen Wert verschaffen soll, der Lebenslauf, der die besondere Individualität (und Kreativität) des Bewerbers herausstreicht, die Urlaubsreise, die zur Entdeckungsfahrt in unentdecktes Land führt, die besonders in sozialen Medien zelebrierte Authentizität einer Person oder Sache.
Verbleiben wir einen Moment bei diesem Punkt und beleuchten wir als Beispiel etwas näher, wie Reckwitz „Authentizität“ beschreibt. Hier ist es wichtig nochmal zu betonen, dass er nicht nur das individuelle Leben der Menschen als singularisiert ansieht, sondern das dieser Prozess auch vor Gruppen, Dingen, Räumen und Ereignissen nicht Halt macht. Eine wertvolle Zuschreibung für diese sozialen Elemente wird die Authentizität, die ihnen scheinbar innewohnt und diese versuchen nicht nur Menschen, wie Influencer oder Politiker zu erlangen, sondern ebenso Orte (ob Urlaubsort oder Städte, die sich für neue Besucher oder Bewohner chic und herausragend machen), Kollektive wie der Yoga-Kurs oder die Protestbewegung oder Güter, wie das Essen oder das besondere Musikfestival zu erlangen. Wirtschaftlich gewendet bedeutet dies, dass wir in einer Ökonomie der Authentizitätsgüter leben, also in einer Zeit, in welcher mit Authentizität ein Artefakt besser (oder sogar überhaupt erst) verkauft werden kann. Diese Authentizität zu erreichen, daher echt und nicht künstlich zu wirken, bedarf es ein Gefühl von Echtheit zu affizieren. Dieses Affizieren wird durch eine Performanz erreicht, die aber selbst eine entleerte Zeichenform (es gibt daher eben keine geheime Zutat, keine Inhaltsliste, wie man Authentisch wird, sondern sie ist eine Performanz, eine Vorstellung, wie auf einer Bühne) darstellt, „sie ist nicht von Natur aus da, sie wird auf- und ausgeführt.“ (S.138). Ich bin also nicht authentisch, weil ich Stilmittel A,B oder C in mir trage (z.B. Intelligenz, Schönheit etc.), sondern weil ich eine „immanente Stimmigkeit“ performe (die sie ja wohl hoffentlich in diesem Blog wiederfinden, geneigte Leser*innen!) Interessanterweise ist Authentizität, nur die Simulation von Natürlichkeit, denn im Raum des Sozialen ist alles gemacht (wenn etwas sozial nicht gemacht würde, würde es sozial nicht existieren) und damit ist selbst die Authentizität im „strengen Sinne fake“ (S.138). Authentizität so kann man Reckwitz folgen, ist Authentizitätsarbeit und diese macht nicht nur beim Aufpeppen des eigenen Lebens halt, sondern betrifft eine Vielzahl der Phänomene der spätmodernen Ökonomie der singulären Authentizitätsgüter. Versuchen wir das negativ auszuformulieren; man denke an neue Musikgruppen der irgendetwas fehlt und die wie aus der Retorte wirken, an Interviews nach Sportereignissen, bei denen immer wieder die gleiche Frage mit der gleichen Antwort versehen wird, an Restaurants die steril aussehen und wo das Essen nicht gut und nicht schlecht schmeckt. Es bedarf also heute im Zeitalter der Ökonomie der Authentizitätsgüter einer besondere Singularisierung der Güter, ein Prozess der insbesondere in der Werbeindustrie seine Ursprünge fand, heute aber auf den unterschiedlichsten Wegen daher kommt und viel weiter als reine Produktreklame geht, sondern dem Gut quasi inne wohnt und ständig neu produziert wird.
Im Bereich der Kunst kommt dieser Authentifizierungsleistung eine besondere Rolle zu, denn Kunst lebt von der Unterscheidung. Da nun der Trend dahingeht, dass Alles etwas Besonderes ist und unterscheidbar sein muss, wird es für die Kunst natürlich schwerer das eigene Besondere darzustellen. Reckwitz führt für die Kunst den Begriff der „ambivalenten Affizierung“ aus. Während singuläre Güter meist positiv affiziert werden (das heißt man findet den authentischen Influencer klasse, den Politiker kompetent und die Stadt mit ihren Szenevierteln, Bars, Clubs, Sehenswürdigkeiten und Bewohnern total authentisch) kann Kunst Unbehagen auslösen, kann verstören und unharmonisch und abstoßend wirken. „Das spätmoderne (und darin nun postmoderne) Kunstwerk ist von daher metaauthentisch: nicht eindeutig und homogen, sondern mehrdeutig und in kein Raster passend. Dass eine solche Rezeption und Valorisierung im Einzelfall hochgradig umstritten ist, liegt auf der Hand.“ (S.140)
Dieses kleine Beispiel zeigt hoffentlich recht eindrücklich, dass mit Reckwitz Theoriegebäude der Gesellschaft der Singularitäten viele Phänomene unserer Zeit sehr gut beschrieben werden können. Er betont, dass die Logik des Allgemeinen auch heute nicht verschwindet, aber sie verändert ihren Status und ihre Form und wird zu einer Hintergrundstruktur der Fabrikation von sozialen Singularitäten. Denken Sie dabei an die Algorithmen der sozialen Medien, die nach ganz rationalen Gesichtspunkten Daten aufnehmen, um damit aber dann singuläre Profile der „besonderen“ Nutzers zu generieren. Dieses Besondere ist für Reckwitz durch eine hohen Eigenkomplexität gekennzeichnet, „die innerhalb von sozialen Praktiken als besondere wahrgenommen und bewertet, fabriziert und behandelt werden.“ (S. 50), die aber keine objektiven Fakten enthält, sondern immer wieder durch Praktiken der Singularisierung erschaffen werden (Beobachten, Bewerten, Hervorbringen, Aneignen). Reckwitz arbeitet dieses Schema nun an verschiedenen Feldern des Sozialen ab, an der postindustriellen Ökonomie, einer Singularisierung in der Arbeitswelt, der Digitalisierung, die einen Aufstieg einer „Kulturmaschine“ hervorruft (ab S.225), einer singularistischen Lebensführung der Subjekte und final einem Wandel des Politischen. Abschließend fragt Reckwitz danach, ob das Projekt der Moderne mit seinem Ideal seines gesamtgesellschaftlichen Fortschritts obsolet geworden ist, wobei er drei Krisenmerkmale definiert (Anerkennungskrise, Selbstverwirklichungskrise und eine Krise des Politischen), welche die sozialen Herausforderungen unserer Tage sind.
„Die Gesellschaft der Singularitäten“ fand ein sehr breites Echo, das auch weit über den Bereich der Soziologie hinausreichte (so stammt meine Ausgabe aus der Bundeszentrale für politische Bildung, die es in ihren Katalog aufnahm). Auch wenn man kritisch anmerken kann, dass für eine umfassende Analyse der Gesellschaft die Betonung der Singularisierung die neu entstandene Mittelklasse der letzten Jahrzehnte und ihren Lebensstil etwas überbetont, so kann man jedoch nicht umhin ihr zu attestieren, dass sie auf sehr viele zeitgenössische gesellschaftliche Phänomene eine Antwort liefern kann. Dazu ist es in einem Stil geschrieben, der zwar etwas sozialwissenschaftlichen Hintergrund benötigt, aber trotzdem auch durch viele sehr nachvollziehbare Beispiele aus der Welt des sozialen sehr lesbar ist und das macht dieses soziologische Buch tatsächlich sehr besonders und sehr erhellend.
[1] An dieser Stelle möchte ich unbedingt betonen, diese Beispiele sind keinesfalls wertend. Früher war es nicht besser als heute und andersherum ist es gleichfalls nicht der Fall. Die Beispiele sind gleichfalls nur sehr grob und notwendigerweise verallgemeinernd, selbstverständlich gab es auch schon vor 1950 Jahren das Besondere, das Einzigartige etc. Aber es hatte eine anderen gesellschaftlichen Stellenwert, es war eher ein Ausreißer, etwas das sich nicht an die Regeln halten konnte und damit eher negativ betrachtet wurde.