Originaltitel: „Bardo, falsa crónica de unas cuantas verdades“ | Jahr: 2022 | Drehbuch & Regie: Alejandro G. Iñárritu (Drehbuch mit: Nicolás Giacobone) | Spielfilm | 159min (Kinofassung: 174min) | Location: Mexiko
Es gibt Länder auf dieser Welt, die haben mich bisher nicht abgeholt, so dass ich keine Versuchung sah, dorthin zu reisen, oder – um einen Anfang zu machen – mich etwas näher mit ihnen zu beschäftigen. Mexiko gehörte in meinen Erinnerungen genau zu diesem Typ von Regionen unseres Planeten. Das hat sich in den letzten Monaten geändert. Ich bemerke, dass ich empfänglicher oder aufmerksamer bin, wenn vom größten Land Zentralamerikas die Rede ist. Dazu wird sicherlich Roberto Bolaños Roman „2666“ einen Teil beigetragen haben. Als ich neulich „Anfänge“, ein sozialwissenschaftliches Buch von David Graeber und David Wengrow[1] las, fiel meine Aufmerksamkeit auf eine interessante Interpretation der aztekischen Kultur. Nun sah ich „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ des mexikanischen Regisseurs Alejandro G. Iñárritu und ich komme nicht umhin zuzugeben, dass ich Mexiko zunehmend spannend finde. Das hat auch damit zu tun, dass Iñárritu mit diesem Film eine Art Liebeserklärung an sein Land richtet,[2] und ich diese Hommage sehr sympathisch finde.
Dem mexikanischen Journalisten und Dokumentarfilmemacher Silverino Gama (Daniel Giménez Cacho) soll in Los Angeles, einen der renommiertesten Preise für Journalismus erhalten. Er ist der erste Lateinamerikaner, der ihn je verliehen bekommt. Die Ehre und auch die Aufmerksamkeit sind nicht unerheblich. Doch bevor es so weit ist, reist er von seinem Wohnort Los Angeles mit seiner Frau Lucia (Griselda Siciliana) in seine alte Heimat nach Mexiko. Dort erlebt Silverino, wie er eine eigentümliche Distanz zu seinem Heimatland angenommen hat. Gleichzeitig erfährt er, dass er für seinen neuesten Film „die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ kritisiert wird, denn man scheint ihm, den ein oder anderen kritischen Blick nicht zu verzeihen. Doch in Mexiko sind auch seine alten Freunde und er ist hier mit seiner Familie vereint. Über dieser, eigentlich sehr glücklichen Familie, zu der auch Tochter Camila (Ximena Lamadrid) und Sohn Lorenzo (Iker Sanchez Solano) gehören, liegt jedoch ein niemals verschwindender Schatten, denn eigentlich hätte Silverino zwei Söhne haben sollen. Sohn Mateo lebte nur wenige Stunden nach seiner Geburt und sein Tod spielt noch viele Jahre nach dem Ereignis eine große Rolle in der Familie.
Es ist erstaunlich zu sehen, dass „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ durchaus eine Menge gemischte Kritiken bekam[3]. Ich kann hier nicht anders, als von einem Meisterwerk zu sprechen und möchte kurz auf die eindrücklichsten Dinge hinweisen.
Am augenfälligsten ist sicherlich die Kamera, die von Darius Khondji geführt wurde und teilweise atemberaubende Aufnahmen liefert. In den letzten Jahren, vielleicht sogar Jahrzehnten, ist man spektakuläre Bilder als Film- und sogar Fernsehzuschauer mehr und mehr gewohnt. Manchmal sind es Optiken, die in Erinnerung bleiben, wie die Perspektive der 1960er Jahre in „The Shape of the Water“ oder das expressionistische fieberhafte Sprachspiel der Serie „The Thrid Day“. Manchmal sind es aber auch einige Szenen, die einfach nur beindruckende Bilder liefern, die man am liebsten Rahmen möchte, um sie sich an die Wand zu hängen und sich stets daran erfreuen zu können[4], wie z.B. bei „The Power of the Dog“. Khondij schafft es bei „Bardo“ uns Bilder von fesselnder Schönheit zu liefern, seien es Bahnfahrten, Infinity-Pools, Straßenzüge oder Menschenpyramiden. Allein dies macht den Film schon äußerst sehenswert.[5]
Dem schließt sich eine Handlung an, die vielleicht nicht immer klar ist, weil sie ohne Vorwarnung zwischen Träumen und Gedanken des Protagonisten und der „tatsächlichen“ Welt hin und her changiert. Sehr deutlich fühlt man sich im magischen Realismus aufgehoben und von der ebenso simplen, wie häufig vergessenen Einsicht gefangen, dass für jeden von uns, die Welt das ist, was unsere Gedanken daraus machen. Und Silverionos Welt ist voll und komplex, widerstreitend und klar, voller Schönheit, Engagement, Liebe, aber auch Vorsicht und Verachtung. Sein Filmschaffen ist geprägt von einer Reflexion über sein Land Mexiko und seine Position zu ihm. Eine Position die sich in seinem Leben erst ergeben hat.
Eine spannende Meta-Ebene der Handlung erfährt „Bardo,…“ da es – wie bereits erwähnt – in der Handlung noch um einen Film geht, den Silverino Gama über Mexiko macht (und der wie der Untertitel des Filmes: „Die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ heißt). Eine sehr schöne Idee ist, dass man schon früh als Zuschauer von diesem Film erfährt, er aber erst später in einzelnen Szenen dargestellt wird und man ihn dann wiedererkennt (auch hier ist alles im Fluss, was Film im Film, was hinter den Kulissen, was Silverinos Gedanken sind, lässt sich nicht klar trennen). Das dabei Silverino für seine allzu selbstbezogene Position, bei der Erzählung seines Films kritisiert wird, ist ein weiterer wundervoller Verweisschlenker auf den eigentlichen Film „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“, der auch eine halb-autobiographische Verfilmung der Welt von Iñárritu ist. Das öffnet eine weitere Perspektive auf den Streifen, der auch über die Fragen von Heimat und Lebensweg erzählt. Wie bereits erwähnt, ist der Film eine Liebeserklärung an Mexiko,[6] aber man kann ganz neutral zu diesem Land stehen, um gleichfalls die erweiterte Perspektive zu erkennen. Es geht um das Suchen im Leben, was Heimat ist, was sie ausmacht, wo man selbst hingehört,[7] ob nun emotional, durch den Zufall der Geburt oder die Dokumente von imaginierten Gemeinschaften.[8]
In „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ wird dieses Gefühl für Heimat noch mit der Verbundenheit zur eigenen Familie erweitert und das aus der Perspektive eines Familienvaters, dessen Fundament bei seiner Frau und seinen Kindern liegt und dessen Tragkraft auch noch bei seinen Eltern zu verorten ist. Dies wird als tiefe emotionale Bindung inszeniert, als ein verbindender Rahmen, der alle seine Mitglieder formt, aber auch beschützt.
Ein Film, der uns sagt, was wir sind und obwohl wir immer etwas Eigenes sind, sind wir dann doch das Resultat, aus dem was uns ausmacht und ein bisschen auch aus dem, was wir versucht haben, auszumachen. Und auch wenn wir vieles davon nicht in faktische Teile zerlegen können, so bleiben es doch Wahrheiten, die uns prägen. Großes Kino!
[1] Ich werde mich aber um eine Rezension dieses Buches ebenso drücken, wie über die der meisten Fachbücher der letzten Zeit. Das erfüllt mich nicht gerade mit Stolz, aber um eine halbwegs werthaltige Aussage über Fachbücher machen zu können, benötigt es viel Aufwand und ich möchte Sie, geneigte Leser, nicht mit reflexhaften ersten Eindrücken abspeisen. Selbstverständlich nehme ich mir dieses feuilletonistische Gehabe bei Romanen, Filmen und Serien weiterhin heraus!
[2] Und zwar in einer Form, wie man Liebeserklärungen tatsächlich wahrhaft ausspricht, nicht als stupende Aufzählung von Vorteilen, sondern als emotionale Abarbeitung, an dem was gefällt und auch an dem, was weniger gefällt, oder anders gesagt, an der Tatsache nicht davon weg zu kommen, sich für ewig verbunden zu fühlen.
[3] Bei wikipedia liest man dazu: „Von den bei Rotten Tomatoes nach der Premiere am 1. September 2022 beim Filmfestival von Venedig aufgeführten mehr als zwei Dutzend Kritiken sind knapp über die Hälfte positiv. Auf der Website Metacritic erhielt Bardo eine ähnliche Bewertung, basierend auf ebenfalls mehr als einem Dutzend ausgewerteter englischsprachiger Kritiken. Dieser Metascore steht für ein gemischte oder durchschnittliche Bewertung.Damit fielen die ersten Reaktionen der englischsprachigen Fachkritik sehr viel schwächer aus, als bei seinen vorangegangenen Werken.Vor der Uraufführung war der Film von amerikanischen Branchendiensten noch zu den möglichen Höhepunkten des Kinojahres 2022 gezählt und als Kandidat für die Oscarverleihung 2023 gehandelt worden.“
[https://de.wikipedia.org/wiki/Bardo%2C_die_erfundene_Chronik_einer_Handvoll_Wahrheiten; abgerufen am 23.1.2023]
[4] An dieser Stelle lohnt es sich kurz über die eigentümliche Vergänglichkeit der Bilderwelten bei Filmen nachzudenken. Vielleicht liegt gerade der große Reiz an solchen Szenen, dass sie mit der nächsten Szene schon verglimmt sind, sie erinnern an die Sterblichkeit des Gefühls der Schönheit, dass man vielleicht auch bei der Musik kennt, wenn man vernarrt in ein neues Lied ist und es immer und immer wieder hört, bis es ganz langsam seinen Reiz verliert (aber trotzdem ein tolles Lied bleibt). So gesehen ist die Verknappung der Schönheit im Film durch Ablaufen der Zeit ein ästhetisch hohes Gut.
[5] Der Film bekam tatsächlich eine Oscar-Nominierung, und zwar für die beste Kamera. Vollkommen verständlich!
[6] Allein die kleinen Farbtupfer im Abspann sind so liebevoll gemacht, dass es einen fast die Tränen vor Freude in die Augen treibt.
[7] Ganz großartig in diesem Zusammenhang, die Szene am Flughafen! Wie hier zwischen dem Gefühl für Heimat und administrativen Regeln, aber auch zwischen Herkunft und Status, zwischen Gleichheit und Andersheit gespielt wird ist sehr, sehr beeindruckend.
[8] Ich bin ein großer Fan von Benedict Andersons Beschreibung der Nation als „imaginierte Gemeinschaften“ und empfehle sein Buch: „Die Erfindung der Nation“. An dieser Stelle sei wieder auf Fußnote 1 dieses Textes verwiesen, irgendwie ist dieser Blog nichts für sozialwissenschaftliche Darstellungen.