„Tsonduko“ ist ein japanisches Wort, welches einen Sachverhalt darstellt, den Sie – geneigter Leser – vielleicht auch kennen und der bei mir in den letzten Jahren quasi zu einem Problem wurde. Tsunduko beschreibt den Vorgang des Erwerbes von Büchern, ohne dass diese dann zu Hause auch gelesen werden und sich quasi unberührt stapeln. Im Zuge des Jahreswechsels habe ich mir zwei Aufgaben für das Jahr 2022 gestellt und eine davon war meinen Tsoduko-Stapel kleiner werden zu lassen, oder um es anders zu formulieren, mehr Bücher zu lesen, als zu kaufen.
Selbstverständlich führe ich darüber Buch! Jetzt zeigte mir die Buchführung, dass ich gar nicht mal so viel lese, wie ich dachte, was auch daran liegen könnte das die meisten Bücher, die ich in diesem Jahr zur Hand nahm, ziemlich lange Texte waren. Um meinen Tsonduko Stapel[1] nachhaltig zu verkleinern, empfahl es sich zu etwas dünneren Ausgaben zu wechseln. Und da war das kleine Reclam-Bändchen mit zwei Kurzgeschichten von Nikolaj Gogol mir gerade recht.
Erworben wurde es anlässlich der wirklich guten Ausstellung zu romantischer Kunst zwischen Moskau und Dresden, welche im letzten Jahr in den Kunstsammlungen zu bestaunen war und erst da, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, entdeckte ich Gogol für mich, einen der wichtigsten Vertreter russischer Literatur, nicht nur des 19. Jahrhunderts. „Nikolaj Gogol – Der Mantel, Die Nase“ weiterlesen
Kategorie: Literatur
Stephan Thome – Fliehkräfte
Aus der Reihe: „aus fremden Regalen“
Erschien 2012 bei Suhrkamp | 474 Seiten
Ich habe lange überlegt eine neue Reihe für diesen Blog einzuführen, die sich ungefähr „aus fremden Regalen“ oder ähnlich nennen lassen würde. Es geht mir dabei um rezipierte Werke, die eine Ausflucht aus meinen eigenen Listen und Beabsichtigungen darstellen und mir spontan bei anderen Menschen auffallen, oder mir von diesen so überzeugend vorgestellt werden, dass ich diese Werke spontan verschlinge.[1] Beim Abschreiten des Regals meiner Schwester fiel mir Stephan Thome in die Hände, von dem ich vorher nichts wusste. Da ich das Gefühl hatte, meine Leseliste benötigte etwas neuen Pep, nahm ich das Buch, das mich hauptsächlich durch seine ästhetische Ausgabe in Form des Covers, seinen Verlag[2] und dem abgebildeten Hinweis auf der Shortlist für den deutschen Buchpreis 2012 geführt worden zu sein, überzeugte.
Hartmut Hainbach ist Philosophieprofessor in Bonn, geht auf seinen 60.Geburtstag zu, steht aber vor einer Lebens-Sinn-Frage. Seine Frau arbeitet seit zwei Jahren in Berlin und er ist die räumliche Trennung leid, weshalb er sich ein Jobangebot bei einem Verlag der Hauptstadt anhört, dass er aber eigentlich gar nicht annehmen möchte. Aber die Einsamkeit seines Bonner Lebens schmerzt ihn und ein „Weiter so“ seiner Ehe ist für ihn nicht mehr ertragbar. Nach dem Vorstellungsgespräch isst er zusammen mit seiner Frau zu Mittag, entscheidet sich aber, ihr nichts von dem Termin zu erzählen. In den nächsten zwei Wochen muss er eine Entscheidung treffen! „Stephan Thome – Fliehkräfte“ weiterlesen
Jonathan Franzen – Crossroads
Erschien 2021 im gleichnamigen Original | Deutsche Übersetzung von Bettina Abarbanell | 2011 bei Rowohlt | 832 Seiten
Und wieder ergänzte der Weihnachtsmann meine Bücherliste[1] mit einem „+1“, denn er legte einen Büchergutschein unter die Tanne. Im Januar war schnell klar, dass es der neue – mittlerweile 6. – Roman von Jonathan Franzen sein soll, welchen ich im Buchhandel dafür einlösen würden, denn nicht nur lag eine Kopie des Werkes augenfreundlich gut ausgelegt, Franzen gehört auch in die Top 10 Liste meiner Lieblingsautoren.[2] „Jonathan Franzen – Crossroads“ weiterlesen
Philip Roth – Die Demütigung
Erschien 2009 im Original als „The Humbling“ | Deutsche Übersetzung von Dirk von Gunsteren | 2010 bei Carl Hanser | 140 Seiten
Philip Roths Spätwerk besteht aus vier Kurzromanen, die unter dem Titel „Nemesis“ zusammengefasst wurden. Ihnen allen ist ein thematischer Überbau gemeinsam, dessen Rahmen man vielleicht als den Einbruch der Welt in die Leben der Akteure und deren damit folgende existentielle Herausforderungen bezeichnen kann.
In seinem vorletzten Roman „Die Demütigung“, stellt uns Roth den Schauspieler Simon Axler vor. Axler ist eines der größten Talente seiner Zunft und Generation, doch mit dem Eintritt in seine siebente Lebensdekade scheint ihn sein großes Können verlassen zu haben. Nicht nur seine Darstellungen werden vernichtend kritisiert, er selbst glaubt nicht mehr an sein Können und sein Leben fällt in sich zusammen. Er weigert sich neue Engagements anzunehmen, seine Frau verlässt ihn und er taucht ab in die Einsamkeit seines Landhauses an der Ostküste der USA. Sein Leben wird vom Gedanken an den Suizid beseelt und nur ein Anruf bei seinem Arzt errettet ihm vor dem Gebrauch seiner Schrotflinte. Er verbringt 26 Tage in einer psychologischen Einrichtung. Nach seiner Entlassung findet er Bekanntschaft mit der Tochter alter Freunde. Pegeen ist eine 40-jährige College Dozentin, welche sich erst kürzlich von ihrer langjährigen Freundin trennte und eine zerbrochene Affäre mit ihrer Dekanin hat. Simon und Pegeen werden ein Paar, doch neben dem Ausleben der Lust auf das Leben, kommen bald Zweifel auf. „Philip Roth – Die Demütigung“ weiterlesen
Michael Chabon – Telegraph Avenue
Erschien im Original 2012 | Deutsche Übersetzung von Andrea Fischer | 2014 bei Kiepenheuer & Witsch (2016 als Rowohlt Taschenbuch) | 672 Seiten
Seit vielen Jahren mal wieder ein Buch von Michael Chabon! Warum meine Wahl dabei auf „Telegraph Avenue“ fiel, kann ich gar nicht mehr sagen und ich befürchte die latenten Gründe sind von entwaffnender Beliebigkeit bezüglicher meiner Bücherauswahl. Chabon jedenfalls, wollte ich seit langer Zeit mal wieder lesen, ist doch sein Roman „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier und Clay“ das einzige von mir gelesene Buch, dass einen Pullitzer-Preis gewann, was so befürchte ich, mehr über mich, als über den Preis aussagt. „Michael Chabon – Telegraph Avenue“ weiterlesen
David Mitchell – Slade House
Erschien im Original: 2015 | Deutsche Übersetzung von Volker Oldenburg | 2018 bei Rowohlt | 240 Seiten
Vor nicht allzu langer Zeit habe ich an dieser Stelle eine Art Leselinie von Autoren gezeichnet. Wie das nun mal bei Listen so ist, kann man mit ihnen nie ganz zufrieden sein, denn die Frage wer oder was auf ihnen aufgenommen ist und wer oder was nicht, ist immer ein wenig komplex. Eine Liste lebt genauso davon was auf ihr steht, wie was sie nicht beinhaltet. David Mitchell jedenfalls erschien auf der angesprochenen „biographisch-chronologischen“ Leselinie meines Lebens. Seit rund anderthalb Jahren würde ich mich als großen Fan bezeichnen und was sehr erfreulich ist, mir stehen noch drei Bücher des britischen Autors bevor, die ich noch nicht gelesen hatte. Eines davon ist „Slade House“, ein für Mitchell Verhältnisse recht kurzes Werk.
In einer verwinkelten Gasse in einer namenlosen britischen Stadt steht das nicht einfach zu findende Slade House. Dichte und hohe Mauern scheinen es fast unauffindbar zu machen, doch wenn man einmal hineingelangt, dann eröffnet das Haus und seine Bewohner einen ganz eigenen, auf seine Besucher abgestimmten Charme, der einen schneller als man denkt gefangen nimmt. „David Mitchell – Slade House“ weiterlesen
Jonathan Lethem – Chronic City
Erschien im Original: 2009 | deutsche Übersetzung von Johann Christoph Maas und Michael Zöllner | 2011 bei Tropen | 494 Seiten (im Taschenbuch bei Fischer)
Vor nicht allzu langer Zeit habe ich an dieser Stelle erklärt, ich müsse mal wieder Jonathan Lethem lesen. Das führte dazu, das sein Roman „Chronic City“ auf meiner Winterleseliste auftauchte.
„Chronic City” ist ein in New York City spielender Roman, ein Schauplatz, der im Schaffen des gebürtigen Brooklyner Lethem häufig anzutreffen ist. Dieses New York jedoch ist eine surreale, krisenhafte Stadtlandschaft, die man sich eher wie ein leicht dystopisches Szenario vorstellen muss, ein Motiv, welches momentan ja eine gewisse Relevanz und Konjunktur hat (vielleicht war das auch schon immer so, aber die aktuellen Krisen scheinen immer stärker und schneller zu werden, ob das in 10 Jahren noch genauso wahrgenommen wird ist spekulativ, aber spannend).
Der Hauptteil der Handlung von „Chronic City“ spielt in einem eisigen und tief verschneiten Winter, der sich endlos zu ziehen vermag, die New York Times bringt „kriegsfreie“ Nachrichten heraus (wohl, weil die Leser vom vielen Krieg auf dem Planeten nichts mehr wissen wollen), Teile von Downtown liegen seit vielen Monaten unter dichten Wolken und ein seltsamer und irgendwie mutierter Tiger streunert durch die Stadt und richtet allerhand Zerstörung an. Doch während man seine Destruktion sehen kann, bleibt das Tiger selbst wie ein mythisches Wesen, welches kein Mensch je richtig sah, geschweige denn in Gefangenschaft nehmen konnte.
Chase Insteadman, ein ehemaliger Kinderstar lebt in dieser Stadt und gehört zu einer nicht unerheblichen Anzahl an Bohème, deren Alltag davon geprägt ist, andere Menschen zu treffen. Insteadman ist destingiert und attraktiv, doch für die Öffentlichkeit der Stadt ist er vor allem eins; der Verlobte der Astronautin Janice Trumbull. Diese wiederum sitzt gefangen in einer Weltraumstation, deren Eingeschlossenheit sich darin begründet, das chinesische Mienen eine Rückkehr auf die Erde unmöglich machen. Was die Situation noch verschlimmert ist die Tatsache, dass lediglich Nachrichten an die Erde gesendet werden können, darauf aber kaum geantwortet werden kann. Und so erhält Chase Liebesbriefe von Janice (die natürlich vorab, in der New York Times veröffentlicht werden), kann diese aber nie beantworten und lebt sein Leben auf Erden.
Insteadman lernt Perkus Tooth kennen, einen abgedrehten Gesellschaftskritiker, der ihn in seinen Bann zieht, da Perkus nicht nur scheinbar tief fundiertes Wissen über die Filmbranche besitzt, sondern gleichfalls faszinierende, wie merkwürdige Welterklärungsansätze anbietet, allen voran, die Spekulation, das Marlon Brando noch lebt. Chase verbringt immer mehr Nächte bei Perkus, wo sie bis in den frühen Morgen hinein, getränkt von der rauschhaften Wirkung Mariuanhas über New York und die Welt grübeln. Eines Tages läuft Chase die Ghostwriterin Oona Lazlo bei Perkins über den Weg, die scheinbar in jedes größere Buchprojekt der Stadt verwickelt zu sein scheint. Bei einer Dinnerparty lernt Chase außerdem den Rathausmitarbeiter Richard Abneg kennen, der ebenfalls ein Freund von Perkus ist. Und so sieht man sich und spricht miteiandern, in der rauen Kälte New York Citys. „Jonathan Lethem – Chronic City“ weiterlesen
D.T. Max – Jede Liebesgeschichte ist eine Geistergeschichte. David Foster Wallace – Ein Leben
Originaltitel: „Every Love Story is a Ghost Story: A Life of David Foster Wallace“ | deutsche Übersetzung von: Eva Kemper | 2014 bei Kipenheuer & Witsch erschienen | 502 Seiten
Ich kann mich noch an so viel erinnern. Ich sitze im Zug und lese zum ersten Mal in meinem Leben David Foster Wallace, oder DFW[1], wie seine, mit einem unsichtbaren Band gemeinsamer Begeisterung verbundenen, Fans ihn nennen.[2] Ich kann mich auch daran erinnern, wie ich den „Unendlichen Spaß“ begann und ich erinnere mich, wie ich die letzten Zeilen las, nur um sofort wieder mit der ersten Seite des Buches neu zu beginnen, doch ich wusste in diesem Moment, dass es das beste Buch war, das ich je gelesen hatte. Ich erinnere mich daran, am Tag des erscheinen des „Bleichen Königs“ DFWs unvollendeten letzten Roman in einer Buchhandlung gesehen zu haben.[3] Wie ich verführt wurde von der Idee, das Werk an jenem symbolischen Tag gleich erwerben zu müssen, wie es ein Fan nun einmal tun müsste, aber mir klar wurde, dass ich ihn nicht gleich lesen würde (wie es ein richtiger Hardcore Fan eigentlich auch tun müsste[4]), ließ ich davon ab. Es gibt so viele Erinnerungen, an die vielen Stunden mit seinen Texten. Und da es keine neuen Texte mehr von ihm gibt, lese ich nun etwas über ihn, denn wenn ich mal meine Biographie schreiben sollte, dann ist nach Don DeLillo, DFW – chronologisch gesehen – so etwas wie der zweite große Autor meines Lesens.[5] [6]
Adam Tooze – Welt im Lockdown
Originaltitel: “Shutdown. How Covid Shook the World’s Economy”| deutsche Übersetzung von Andreas Wirthensohn | 2021 bei C.H.Beck erschienen | 408 Seiten
Stellen sie sich vor, sie wären ziemlich clever (jeder kann sich das eigentlich ganz gut vorstellen, ich stelle es mir manchmal vor – na gut ich gebe zu, öfters vor – ich stelle mir sogar vor, ich wäre besonders clever). Sie sitzen bei der Premiere eines neuen Films und weil sie clever sind und weil unklar ist, wie lange der Film noch geht, gehen aus dem Kino heraus und erzählen dem gespannten Publikum, das keinen Einlass zur Premiere hatte, aber eigentlich echt gern wissen würde, worum es geht, was sie über den Film denken. Ihre Einlassungen sind geprägt von großer Kenntnis und Sachverstand, und sie haben den großen Vorteil, dass sie der Einzige waren, der vorher aus dem Kino rausgegangen ist und können somit erstmal frei erzählen, weil die anderen Typen noch im Saal sitzen. Es gibt eben nur ein winziges Problem, sie kennen das Ende des Filmes nicht, sie wissen noch nicht mal, wie nah oder fern sie am Abspann waren.
Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, den ich durch sein Buch „Crashed“ außerordentlich schätze, hat Ende des letzten Jahres, ein Buch über die Corona-Krise veröffentlicht.[1] Es wurde im April 2021 fertiggestellt und beleuchtet das erste Jahr der Pandemie auf dem Planeten. Eigentlich könnte ich an dieser Stelle schon aufhören zu schreiben, denn dem einen oder anderen mag es aufgefallen sein, die Coronapandemie ist weder im April 2021 noch heute im Januar 2022 wirklich vorbei (vielleicht bald, aber heute noch nicht). Das ist das große Manko, eines Buches, das eigentlich nicht wirklich ein Buch über die Pandemie sein will (so suggeriert es auch der Originaltitel, aber nicht die deutsche Übersetzung!), dessen Hauptschwerpunkt aber die Reaktion auf die Viruskrise ist. Für Adam Tooze ist damit „das Jahr 2020 keineswegs ein Kulminationspunkt, sondern lediglich ein Moment in einem Prozess der Eskalation“ (S.338), der zu einer Politik des Krisenmanagements geführt hat. Als Diagnose ist das aber ein bisschen wenig und man könnte den Vergleich ziehen, dass sie als Arzt einen kranken Menschen vor sich haben, dieser mit einer Grippe vor ihnen steht. Sie diagnostizieren die Krankheit, geben ein Medikament und stellen noch allerhand andere Probleme fest und erklären dem Patienten, darum müsse man sich später auch kümmern. Bei der Darstellung die wir in „Lockdown. Welt am Abgrund“ bekommen, ist die Geschichte aber schon an dieser Stelle zu Ende, ob die Medikamente des Doktors (die Politik) wirken, ob es Nebeneffekte gibt und was wir heilen können und was chronisch werden könnte, werden wir von diesem Buch nicht erfahren, noch nicht mal, wie das mit der ansteckenden Krankheit ausging. „Adam Tooze – Welt im Lockdown“ weiterlesen
Martin Walser – Muttersohn
Erschien: 2011 bei Rowohlt | Seitenzahl: 505
Vor einigen Jahren schon begann ich auf einer Zugfahrt, Martin Walsers Roman „Muttersohn“ zu lesen. Im Herbst ist mir nicht mehr eingefallen, warum ich nur die ersten Seiten lass und dann aufhörte und ich startete erneut, schließlich löste der Titel des Romans eine gewissen Neugier in mir aus, doch schnell stellte sich bei der Lektüre heraus, dass es in diesem Roman aus dem Spätwerk eines der vielleicht größten und umstrittensten noch lebenden deutschen Schriftsteller um mehr geht, als ich dachte. „Martin Walser – Muttersohn“ weiterlesen