Nachdem ich zweimal hintereinander an Büchern scheiterte (Le Clézios „Das Fieber“, das mir wieder mal zeigte das die Auswahl des Nobelkomitees nicht immer auch meine Wahl ist und an Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“, über der bei mir ein Fluch liegt, denn schon zu Schulzeiten war ihre „Kassandra“ das am schwierigsten zu lesende Buch für mich und eine schmerzliche Erinnerung an meinen Deutsch-Grundkurs), wollte ich auf bewährte, aber intelligente Lektüre zurückgreifen. Was liege da näher als der mittlerweile schon ein Jahr alte, neue Kehlmann.
„F“ ist Kehlmanns sechster Roman. Grob zusammengefasst, kann man sagen, er versucht die Reichweite und Verbindung von Lebenssinn und Lebenslüge auszuloten. Das Buch startet in den 1980er mit einem gemeinsamen Nachmittag des Vaters Artur mit seinen beiden Zwillingssöhnen Eric und Iwan und seinem weiteren Sohn Martin, der von einer anderen Frau stammt. Alle vier besuchen den Hypnotiseur Lindemann, dessen Vorstellung auf Artur einen solchen Eindruck macht, dass er sofort seine komplette Familie verlässt und Schriftsteller wird. Im Weiteren verfolgen wir nun das Schicksal seiner drei Söhne, sowie ganz am Ende des Buches das von Marie, der Tochter von Eric.
Alle Söhne haben eins gemeinsam, der Sinn ihres Lebens baut auf einer mehr oder weniger großen Lüge auf, die für das Leben der Drei essentiell wird bzw. sogar den Sinn ihres Lebens wiederspiegelt. Es geht ihnen um die Wahrung des Scheins ohne dessen sie ein ganz anderes Leben führen würden, gleichzeitig kann man aber diesen Schein nicht mehr ablegen oder korrigieren, denn er wird zum Sinn des Lebens. Kehlmanns Buch beschäftigt sich höchst anspruchsvoll mit der Frage, wie frei wir als Individuen sind, wie uns die Kompromisse, die wir einmal eingegangen sind leiten und uns einen Weg vorgeben, der konstruiert (vielleicht sogar falsch) ist, aber der den Sinn unseres Handelns ausmacht und der gerade deshalb umso stärker verteidigt werden muss. „F“ ist dabei – wie beim Autor gewohnt – sehr amüsant geschrieben und wir erleben sogar die kurzzeitige Rückkehr bekannter Romanfiguren anderer Werke Kehlmanns, wie den Kunstkritiker Sebastian Zöllner aus „Ich und Kaminski“. Der Leser wird hineingezogen in die Welten der Religion, Wirtschaft und Kunst und sehen, dass in keiner dieser Sphären wahrhaftiger gesprochen wird als in der je anderen. Ja selbst in intimen oder familiären Gesprächen bleiben Sinn und Lüge, Geheimnis und Wahrheit untrennbar verknüpft. Kehlmanns Figuren sind das, was sie für andere darstellen wollen. Interessanterweise kontrastiert die Figur des Vaters Artur diese Konstellation und wirkt dabei als der Unsympathischste von allen. Der jederzeit kurzweilige und sehr intelligente Roman „F“ ist vielleicht Kehlmanns philosophischstes Buch vom Sinn und Unsinn der Lebenslüge und eine absolute Leseempfehlung.