Vor 400 Jahren versank Mitteleuropa in eine der schlimmsten Auseinandersetzung seiner Geschichte, dem 30-jährigen Krieg. Daniel Kehlmanns 2017 erschienener Roman „Tyll“ blickt auf diese bitteren Zeiten. Der Titel des Romans „Tyll“ lässt dabei an Till Eulenspiegel denken, einer literarischen Figur, die allerdings schon im 14. Jahrhundert auftauchte und als umherreisender Schalk, den Menschen einen ungeschönten Spiegel vors Gesicht zu halten. Daran knüpft Kehlmann an, wobei er nicht eine eine fiktive Biographie eines Tyll Uhlenspiegels konstruiert, sondern ein Panorama der Zeit aufzeigt, dass seine Hauptfigur benutzt, um von Ort zu Ort und Person zu Person zu springen. Der Leser sieht Tyll, als Gaukler, Artist und Hofnarren und erlebt, wie Städte vom Krieg heimgesucht, wie Schlachten geschlagen und Menschen der Hexerei überführt werden. Er lernt historische Gestalten kennen, wie den Winterkönig Friedrich V. von der Pfalz und seine Gemahlin Elisabeth Stuart, oder den Universalgelehrten Athanasius Kircher und hat eine Ahnung wie es damals gewesen sein muss in einer Zeit, wo man nur noch Krieg kannte und nichts anderes mehr.
„Tyll“ ist – wie man es von Kehlmann irgendwie erwartet – ein humorvoller, geistreich verknüpfter und intelligenter Roman, der die Wirren dieses großen, brutalen und unsäglich langen Krieges beschreibt, seine Grausamkeit, seine (Un)Logik, seine menschlichen Tragödien und den alltäglichen Überlebenskampf. Dabei sind die handelnden Figuren großartig inszeniert und durch die zahlreichen Anspielungen auf historische Ereignisse und Personen, wie dem Prager Fenstersturz, den Schwedenkönig Gustav Adolf oder die Schlacht von Zusmarshausen, ist man ständig geneigt sich ein Geschichtsbuch zu besorgen, und mehr über den 30-jährigen Krieg zu erfahren. Dabei bleibt der Roman aber ein Werk der Postmoderne, das auch immer wieder zwischen realen historischen Figuren und fiktiven Gestalten vermittelt und ebenso die eigene Geschichtsschreibung und die seiner Zeitzeugen bricht und relativiert. Einzig die Frage bleibt hängen, ob „Tyll“ sich als ein Panorama einer unsäglich schlimmen Zeit in unseren Landen genügt, oder ob er darüber hinaus auf etwas in unserer heutigen Gesellschaft verweist. Diese letztere Interpretation fällt mir schwer, aber selbst wenn man diesem Punkt nicht habhaft werden kann, ist „Tyll“ als Geschichtsroman ein wahrhaftes Lesevergnügen.
Tatsächlich habe ich „Tyll“ zweimal gelesen. Einmal leise und ein zweites Mal laut. Das zweite Mal war ein großes Vergnügen (das erste Mal auch auch gut und die oben geschriebenen Zeilen beruhen auf jenem Eindruck) und ich habe den Roman noch einmal besser kennen gelernt.
Gestern hatte ich ein fast noch größeres Vergnügen, den Autor gemeinsam mit Ijoma Mangold, auf einer Lesung des Buches zu bewundern (und bewundern ist tatsächlich das richtige Wort, denn es gibt leider viel zu wenige Abende, die einen solch wundervollen, klugen und geistreichen Genuß bieten). Mangold, der ebenso wie ich den Roman zum zweiten Mal laß, allerdings aus anderen Beweggründen, war es zu verdanken, einem intelligentem Gespräch beiwohnen zu können, in welchem Kehlmann nicht nur über die grandiosen Serien der frühen 2000er Jahre sprach (und ja, man feiert innerlich, wenn von seinen persönlichen Lieblingsserien wie „Sopranos“, „The Wire“ oder „Westworld“ gesprochen wird), sondern gleichfalls von – in seinem Romanwerk stetig zunehmenden – Dialogen, wie sie bei „Tyll“ vermehrt vorkommen. Ich kann Ihnen versichern, dass es ein größtmögliches Vergnügen ist, den Autor der Zeilen zu hören und zu vergleichen, wie er Stimmen und Betonungen anlegt, wenn man dies selbst einmal gemacht hat. Eine Lesung, die in Erinnerung bleiben wird.