Am 7. November 2013 kam David Foster Wallace letzter Roman in der deutschen Übersetzung in die Buchläden. Seit Weihnachten liegt das Buch in meinem Regal und pünktlich zum neuen Jahr fing ich an den „bleichen König“ zu lesen. Was konnte ich erwarten? Schwer zu sagen, denn als DFW am 12. September 2008 starb, war dieser Roman noch nicht fertig, sondern lag in zahlreichen Manuskripten, Anmerkungen und Notizen in des Autors Garage. Sein Verleger Michael Pietsch entschied sich, gemeinsam mit Wallace Witwe Karen Green und seiner Agentin Bonnie Badell das Material zu veröffentlichen, was für DFW mit Sicherheit ein riesiger Graus gewesen wäre, denn er hasste es unfertige Arbeiten jemanden zu zeigen, geschweige denn sie zu veröffentlichen. Ich teile aber Pietschs in den Anmerkungen zum Roman getätigter Argumentation, dass es zu viele DFW Fans (zu denen, wie sie wissen ich mich auch zähle) gibt, die eben nicht die Chance haben, seinen Nachlass in einer speziellen Bibliothek der University of Texas zu lesen. Ich möchte den letzten Satz seiner Anmerkungen zitieren: „David ist leider nicht mehr da, um uns am Lesen zu hindern oder uns zu vergeben, dass wir ihn lesen wollen.“ (S.625)
Nur ein Fragment vor sich zu haben, ist eine etwas unbefriedigende Situation für den Leser. In manchen Situationen, wie beim Studieren von Kafka, ist dies nicht wirklich problematisch. Bei David Foster Wallace jedoch ist dies herausfordernd. Am größten ist diese Herausforderung sicherlich für Pietsch gewesen, denn aus den ungeordneten Manuskripten musste er eine Ordnung erfinden, was ich als eine ungeheure Leistung betrachte, schon aus „Unendlicher Spaß“ weiß man, dass sich Wallace in seinen Romanen einer konkreten Chronologie entzieht und sie lieber „tornadisch“ (wie er selber sagte) anordnet, was heißen soll, „dass Stücke der Geschichte in einem rasenden Wirbel auf den Leser zugeschossen kommen“ (S.623). Man selbst ist dann verantwortlich, aus den Informationen eine Geschichte mit Abfolgen und Charakteren zusammen zu setzen. Auch der Schluss ist verwirrend. Zum einen liegt das daran, das DFW seine beiden anderen Romane ein fast schon abgebrochenes Ende gab (insbesondere bei „Unendlicher Spaß“ scheinen Teile der Haupthandlung unabgeschlossen und man ertappt sich dabei sofort wieder von vorn mit dem Lesen zu beginnen, wobei man im Moment des Erkennens dieses Reflexes, eine umso tiefere Befriedigung über den Roman erfährt). Der „bleiche König“ hat nun aber kein Ende, denn man kann noch nicht mal ahnen, wie viel Zeit DFW noch zur Fertigstellung seines Buches gebraucht hätte. Hätte das Buch noch 100 Seiten mehr bekommen? Oder 500 Seiten? Alles das ist vorstellbar, wie auch die Frage, wer denn nun dieser bleiche König ist, der genau nur ein einziges Mal in der Erzählung in einer nebensächlichen Aufzählung vorkommt? Aber darum geht es wohl nicht, denn David Foster Wallace war nie daran gelegen einen „geschlossene Abbildung einer Welttotalität“ (S.9) zu erreichen, vielmehr kommt man wohl damit zu Recht wenn man die 50 Paragraphen auf den fast 600 Seiten als teilweise verzahnte Kurzgeschichten liest, Kurzgeschichten über den Inbegriff der Langeweile; dem Finanzamt.
Was wir in diesen Stories erleben dürfen ist dann großartig. Zumeist spielen diese Geschichten im IRS (die US-Amerikanische Steuerbehörde) Regionalprüfzentrum Peoria, einem Ort in Illinois, der in Mitten der Weite des Mittleren Westen zu liegen scheint und in meiner Vorstellung ganz wunderbar als langweilige Provinzstadt funktioniert. Hier tummeln sich die Damen und Herren Steuerprüfer mit ihren ganz eigenen Begabungen und Fähigkeiten. Zumeist solchen, und das scheint an diesem Ort die Weltformel zu sein, Langeweile aushalten zu können. Wir lernen die unterschiedlichsten Typen kennen, wie Claude Sylvanshine, dem Assistenten von Merril Lehrl, der sich einen Namen bei der IRS machte, weil er immer wieder schlaue Ideen hatte, das Steueraufkommen zu erhöhen, ohne die Steuern zu erhöhen, was augenscheinlicherweise nur funktioniert, wenn man die Prüfmechanismen verbessert. Oder wir haben David Wallace, der sich als (natürlich fiktiver) Autor dieser Seiten zu verstehen gibt und der in eine unangenehme Verwechslung hineingezogen wird (allein für diese Idee lohnt sich die Lektüre! Denn wie schön ist das Spiel der Ebenen der Verwechslungen hier gelungen; zum einen die Verwechslung des Lesers, ob der Autor hier wirklich aus seinem Leben erzählt, oder es Fiktion ist und dann die Verwechslung in der Fiktion, bei der es zwei David Wallace gibt). Wir lernen den noch jungen Leonard Stecyk kennen, der so hilfsbereit und nachsichtig zu seiner Umwelt ist, dass diese ihn umso mehr dafür hasst. Oder Abscheifungskönig Chris Fogle, der auf knapp über ein hundert Seiten seinen Werdegang zur IRS erläutert. Wir werden ebenso Zeugen eines ganz außergewöhnlichen Feierabendbiergesprächs zwischen dem zurückhaltenden Langweiler Shane Drinion und der äußerst attraktiven, aber emotional etwas geknickten Meredith Rand und wir lesen vom tieftraurigen Weg der kleinen Toni Ware, der auch sie zum IRS führt.
„Der bleiche König“ ist ein großartiges Buch, voller amüsanter, manchmal trauriger und teilweise absolut schräger Ideen, die in dieser Form (so unglaublich präzise in der Schreibe und dann aber auch manchmal, so schwer zu lesen) nur David Foster Wallace schreiben konnte. Auch wenn das Buch nicht an die Genialität von „Unendlicher Spaß“ heran reicht, was es durch seinen fragmentarischen Status natürlich realistischerweise auch nie könnte, ist es wundervolle Literatur. Mit großer Traurigkeit bleibt nur noch ein Buch übrig von DFW, der zweite Teil der Storysammlung „Oblivion“ in Deutschland unter dem Titel „Vergessenheit“ erschienen. Und obwohl ich danach stolz sagen könnte, alles von David Foster Wallace gelesen zu haben, bleibt doch eher die große melancholische Leere das nichts mehr in dieser Form kommen könnte.