Jahr: 2021 | Originaltitel: „Doraibu mai kā“ | Regie & Drehbuch: Ryūsuke Hamaguchi | Spielfilm | 179min | Location: Hiroshima
Es ist vollbracht. Ich erwähnte an dieser Stelle bereits, dass mein Filmjahr 2022 keine wirklichen Highlights bereithielt und ich die letzten Wochen des Jahres nutzen würde, dieses noch zu finden. „Drive My Car“ ist genau dieses gesuchte Glanzlicht geworden.
„Drive My Car“ hatte meine Aufmerksamkeit gewonnen, durch die zahlreichen Preise, die der Film 2022 gewinnen konnte. Zusätzlich sprach für ihn, dass das Drehbuch auf einer Geschichte Haruki Murakamis basierte und der geneigte Leser dieses Blogs dürfte meine Sympathien zu einem der bekanntesten japanischen Autoren des laufenden Jahrhunderts kenne. Ich gebe zu, als ich sah das der Streifen eine Laufzeit von 180min hat, damit spekuliert zu haben, mir den Spielfilm auf zwei Abende zu legen, aber trotz einer eigentlich übersichtlichen Story, fesselt „Drive My Car“ fast von der ersten Minute und ausschalten wird bald nicht mehr möglich. Zusammenfassend würde ich sagen liegt das unter anderem daran, dass seine Handlung ergreifend und seine Themen menschliche Tiefe haben, sondern auch noch, weil seine Bildsprache brillant inszeniert ist.
Der Schauspieler Kafuku (Hidetoshi Nishijima) ist als Stipendiat zu einem Theaterfestival nach Hiroshima eingeladen. Dort soll er Regie führen. Seine Aufgabe ist es Tschechows „Onkel Wanja“ auf die Bühne zu bringen, ein Stück das Kafuku in und auswendig kennt, weil er es bereits in Tokyo spielte. Das Festival hält zwei Überraschungen für ihn parat. Zum einen wird ihm eine Fahrerin (Tōko Miura) zugeteilt, die ihn in seinem Auto zu chauffieren hat. Zum anderen trifft er auf den jungen Schauspieler Takatsuki (Masaki Okada), der einst mit seiner Frau Oto (Reika Kirishima) zusammengearbeitet hatte.
„Drive My Car“ ist aus vielen Gründen ein Meisterwerk. Diesem Text zum Film folgt gleich ein mitschwingendes Bedauern, dass sich darin gründet, dass es mir nicht möglich sein wird, die ganze Größe dieses Films in Buchstaben zu pressen. Ich werde es aber natürlich trotzdem versuchen, so wie Sie – geneigter Leser – es gewohnt sind, in dieser kleinen und gut verborgenen Ecke des Internets.
Beginnen wir mit der grundlegenden Handlungsstruktur, die ich, in einem kleinen Ausschnitt, gerade beschrieb. Dieser Ausschnitt startet jedoch erst nach 40min Spieldauer, denn der titelgebenden Handlung ist ein Prolog vorgelagert, den Kafaku und seine Frau porträtiert. Er handelt zwei Jahre vor dem Festival und beschreibt ein Ehe-Paar in einer Beziehung, die man problemlos als große gegenseitige Liebe bezeichnen könnte. Doch auch dieser Liebe wohnen die Schatten des gemeinsamen Schicksals bei. Da ist zuallererst ihre Tochter, welche vor über 10 Jahren als Kleinkind an einer Lungenentzündung starb. Oto wollte danach keine Kinder mehr, Kafaku eher schon.
Und da sind Otos Affären mit anderen Männern, die sie vor Kafuku geheim hält. Er jedoch findet sie heraus, behält das Geheimnis aber bei, weil er große Angst hat, mit der Enthüllung der Affären, die gemeinsame Ehe nicht mehr zu halten und er Oto keinesfalls verlieren möchte. Doch letztendlich verliert er Oto.
Dieser Prolog wirkt wie ein Katalysator für den weiteren Film, dessen Hauptthema der Verlust eines geliebten Menschen ist.[1] Durch den Prolog haben wir Zuschauer aber diesen geliebten Menschen miterlebt und dadurch wird uns noch viel klarer, wie tief die Liebe von Kafaku zu Oto war. Wir erfahren von den Brüchen, von seiner Eifersucht, von ihrem Fehlen, vom Zurückholen-Wollen und der permanenten und doch immer wieder neuen Erinnerung an sie.
Kontrastiert wird dieses Thema vom Schicksal der Fahrerin, einer wunderlichen jungen Frau, deren Kühle und Unnahbarkeit, sich im Laufe der Zeit zu Tiefe und Verletzlichkeit wandeln (das ist absolut beeindruckend von Tōko Miura gespielt).
„Drive My Car“ bedient sich verschiedener weiterer Mittel, um diesem Thema eine Atmosphäre zu geben. Das ist das Motiv des Autofahrens, dass ich in seiner Inszenierung und Bildsprache noch nie so eindrucksvoll gesehen habe. Mit welcher Liebe zum Detail Hamaguchi den Akt des Fahrens, als Freiheit, als Durchstreifen der Welt, aber auch als Ort des für sich „In-der-Welt-Seins“ beschreibt, ist grandios.[2] „Drive My Car“ schafft dies, obwohl der Film eigentlich kein Road-Movie ist (ausgenommen vielleicht die letzten 20min[3]), sondern ein Film, der sich dem alltäglichen Thema Autofahren verschreibt und ihm eine Tiefe gibt. Hamaguchi wählte dafür einen Saab 900[4] aus und baute ihn immer wieder so vor der Kamera auf, dass man ihn fast als Teil des Schauspielerkollektivs ansehen kann (mit einer wunderschönen Großaufnahme gegen Ende des Filmes[5]).
Als nächstes sind die Dialoge im Film zu nennen, bei denen alle Handelnden immer etwas steif und figürlich wirken (am stärksten sicherlich die Fahrerin), ein bisschen wie, wenn Skulpturen miteinander reden. Meine mangelhafte kulturelle Bildung interpretiert dies einerseits als kulturelle Eigenheit Japans, das sehr großen formalen Wert darauflegt, den anderen weder körperlich zu berühren noch ihn persönlich durch Ironie oder Witz, in eine unangenehme und missverständliche Situation zu bringen. Bei „Drive My Car“ fühlt sich das aber alles gesteigert an, wodurch den Worten, die zwischen den Personen gesprochen werden, mehr Gewicht zukommt (so wie sich dieses Motiv in den schier endlosen Leseübungen wiederspiegelt die Kafaku mit seinen Schauspielern veranstaltet, oder in den Kassettenaufnahmen, die Kafuku im Auto hört).
Interessanterweise habe ich gegen Mitte des Filmes gedacht, dass es sich bei „Drive My Car“ um einen „Männerfilm“ handelt und diese Intention verfolgte auch Hamaguchi, wie ich über den Film später las. Männerfilm steht hierbei aber natürlich nicht für einen einsam sich seinen Weg durch Hindernisse schießende Helden, mit erhöhtem Adrenalin- und Testosteronspiegel. Männer sind hier suchende Menschen. Es fehlt ihnen schwer der Welt das auszudrücken, was sie fühlen, auch – und gerade – wenn diese Gefühle tief und irgendwie unbewältigt in ihnen liegen. Ein Film, der zeigt, wie Männer tiefe seelische Erschütterungen äußerlich fast unbewegt wegzustecken vermögen[6], wie es aber in ihnen arbeitet und wie sie ihr Heil in Gewohnheiten zu finden hoffen, aber eigentlich auf der Suche nach ihrem Leben sind.
Auch wenn ich diese Geschlechterdifferenzierung nicht besonders mag, weil wir als Menschen auf diesem Planeten alle irgendwie gleich und irgendwie alle anders sind, so finde ich als Mann dieses Männerbild ziemlich gelungen, nicht nur weil ich darin die Darstellung eines kulturellen Musters erkenne, sondern auch weil ich mich darin wiederfinden kann.
Wie bereits erwähnt, es ist für mich nicht möglich die ganze Größe dieses Meisterwerks zu beschreiben, ein fesselnder Film, mit wundervollen, ästhetischen Bildern und einer Geschichte deren Tiefgang beeindruckt. Ein dreistündiger Film, der tatsächlich nicht eine Minute zu lang ist.
[1] Von der Grundstimmung her mit den Fragen: Wie geht man damit um, wenn sich die Welt weiterdreht, man aber damit Leben muss, dass sie kein besserer Ort mehr werden wird, dass man sich nichts zurückholen kann, dass das Leben aber trotzdem voranschreitet. Und wie geht man mit den Erinnerungen um, die sich dem neuen Leben anpassen, wie findet man damit wieder zu sich selbst?
[2] Wenn Sie, geneigter Leser, Autofahren eben nicht nur als Transport ansehen, sondern als einen Aspekt ihrer persönlichen Freiheit, dann gibt es kaum einen besseren Film, der dieses Thema in Bilder umsetzt.
[3] Wobei dieser kleine Road-Movie im Film, bis ins letzte Detail stimmt. Achten Sie einfach darauf mit welcher Liebe hier die Fahrt gezeigt wird; die Fahrten durch Tunnel, das Licht eines Leuchtturms, Gewitter, Regen und Schnee, die Verpflegungspausen…
[4] Welche Marke könnte besser eine Individualität beschreiben als ein Saab 900?
[5] Inszeniert als großes Finale des Road-Movie Teils des Films. Aber insgesamt ist die Betonung, die der Wagen erfährt, eine Hommage an die Liebe, die ein Besitzer seinem Auto mitbringt. Wunderbar in diesem Zusammenhang auch die Szene, wo Kafuku und die Fahrerin im Wagen rauchen und ihre Zigaretten aus dem Schiebedach halten. Und ja, auch als militanter Nicht-Raucher muss ich das erwähnen, dieser Film ist auch eine Hommage an das Rauchen einer Zigarette als Zeichen der Bewältigung und Reflektion eines Momentes und auch das wird ziemlich gut gefilmt.
[6] Auch hier eine Stärke des Filmes, die ich sehr schätze; die äußerlich fast unberührte Darstellung einer Szene, bei der man als Zuschauer weiß, wie sehr es im Charakter gerade wühlt, dieses äußerlich gelassene – innerlich explodierende!