Nach fünf Jahren endlich ein neuer Franzen. Und der lag dann auch gleich auf meinem Geburtstagstisch. Da gibt es nur eins, ran an die 830 Seiten!
Nachdem die „Korrekturen“ und auch „Freiheit“ Familienromane waren, ist „Unschuld“ nicht mehr wirklich eine Familiensaga, wenngleich im weitesten Sinne schon. Wir begleiten mehrere Personen, allem voran Pip Tyler, einer verarmten Mit-20erin, die in der Bay Area von San Francisco in einem besetzten Haus lebt und deren größte Sorge, neben dem finanziellen Engpass und ihrem wenig verheißungsvollen Job, ihre Mutter ist, die allein und zurückgezogen lebt und die Pip niemals etwas aus ihrer Vergangenheit verraten möchte, nicht mal, wer ihr Vater ist. Ein weiterer Hauptcharakter ist Andreas Wolf, ein ehemaliger DDR-Bürgerrechtler und heutiger Whistleblower, der mit seiner Enthüllungsplattform Sunlight Project zu großem internationalen Ruhm gekommen ist. Und wir erleben das Journalistenpaar Tom Aberant und Leila Helou, dass in einem etwas ungeklärten Beziehungsstatus lebt und einer großen Story nachjagt.
„Unschuld“, dessen englischer Originaltitel „Purity“ eigentlich „Reinheit“ bedeutet, ist irgendwie Franzens bisher schlechtester Roman. Das liegt zum Teil an seinen umständlichen Charakteren, die nur einen ganz geringen Ansatz zur möglichen Identifizierung leisten. So wie man es von Franzen kennt, arbeiten sich alle Charaktere auf ihre Art am Thema ab. Das dafür der deutsche Titel „Unschuld“ gewählt wurde, ist auf der einen Seite hilfreich, weil es um die Frage von Schuld und Unschuld im Leben geht, aber das englische Wort „Purity“, im Sinne „moralischer Reinheit“ verstanden, trifft es dann eben doch besser. Jeder der Charaktere arbeitet sich an der eigenen moralischen (Un-) Reinheit ab und bedenkt man, dass sich das erweiterte Themenfeld um Journalismus, Whistleblower und das Internet dreht, kommt der Frage, was eine reine, wahre (vielleicht sogar unschuldige?) Geschichte ist, einige Bedeutung zu. Franzen zieht dabei eine Linie zwischen investigativem Journalismus und dem Internet. Das Internet, dass im Roman seltsam verkürzt wegkommt, wird dabei als Gerüchte und Image-Maschine verstanden, was natürlich ein Ansatz ist, unsere heutige Medienlandschaft zu verstehen, der mir aber zu einfach erscheint. Den Gegensatz dazu bildet der investigative Journalismus, der sich seiner Verantwortung als Wahrheitsforscher bewusst ist und versucht diese ans Licht zu führen (egal ob er das über Printmedien oder über das World Wide Web veröffentlicht). Das Internet in „Unschuld“ erscheint daher ein wenig als ein Ort, wo wie beim Stammtisch die eigene Meinung kundgetan und bestätigt werden soll, wo Schuld nicht ausgehandelt, sondern schon verteilt und nur bestätigt wird.
Vergleicht man nun die Rolle die die Stasi in seinem Roman einnimmt, kommt man interessanterweise aber zum Modus den Franzen dem Stammtisch bzw. dem Internet innerhalb seiner Erzählung zuschreibt. Denn die Stasi wird, was niemand ernsthaft überraschen sollte, als ein böser und menschenverachtender Apparat beschrieben, oder besser gelabelt, denn wirklich Praktiken oder Arbeitsweisen werden nicht mehr als nur vage angedeutet und nehmen den Tenor auf, den man sich auch sonst überall über das Ministerium für Staatssicherheit machen könnte. Interessant ist nun, dass es aber zwei Passagen gibt, wo die Stasi bzw. ihre Mitarbeiter näher beschrieben werden, allerdings wird in diesen eben gerade nicht das menschenverachtende Verhalten der Stasi beschrieben, sondern diese wird dabei fast schon „Opfer“ von Gewalt und Diebstahl (um nichts zu verraten, werde ich das nicht weiter ausführen). So gesehen ist es Franzen, der sich dem „common sense“ der Stasi-Erzählungen bedient, was keinesfalls schlimm ist, aber eben in das Schema des unreflektierten Internetphilosophierens viel mehr passt, als in die bevorzugte Wahl des investigativem Journalismus. Hier bleibt man dann bei der Frage hängen, wo sich Romane in der heutigen Gesellschaft verorten lassen könnten? Als Medienanalyse jedenfalls ist „Unschuld“ nur wenig zu gebrauchen, als Aufarbeitung der DDR Vergangenheit liefert er ebenfalls nichts Neues (dazu gesellen sich nicht wirklich dramatische, aber ärgerliche Schnitzer, mit einigen wenigen historischen Fakten der DDR Geschichte).
So arbeitet sich „Unschuld“ an der Grenze ab, was Schuld im Leben ist und wären die Geschichten und Charaktere nicht manchmal so arg überzeichnet, könnte der Roman auch tatsächlich mit seinen Vorgängern mithalten.