Jahr: 2020 | Drehbuch & Regie: J Blakeson | Satire | Länge: 118 min
Es ist so schön, wenn man Gutes tut! Zum Beispiel, wenn man alten Menschen hilft. Hier könnte Marla Greyson (Rosamund Pike) als leuchtendes Beispiel gelten, denn Marla hilft älteren Menschen. Allerdings und hier verkehrt sich das Gute ins Böse, ist ihre Hilfe nur ein Vorwand, um die älteren Menschen zu nicht geschäftsfähigen Personen zu erklären und sie danach finanziell radikal auszunehmen. Zusammen mit ihrer Partnerin Fran (Eiza González) hat sie ein kleines, aber wachsendes Unternehmen, das die Vormundschaft über ältere Menschen übernimmt und dabei das tut, was angeblich sinnvoll und richtig für die älteren Herrschaften ist, aber eigentlich nur dazu führt, dass Marlas Unternehmen ihre Kunden in Heime abschiebt und deren Konten und alle anderen Besitztümer plündert. Die Ärztin Dr. Amos (Alicia Witt) arbeitet gern mit Marla zusammen, denn sie verspricht sie Anteile am geschäftlichen Erfolgsmodell und sie hat eine „Kirsche“ bei der Hand, daher eine ältere Dame namens Jennifer Peterson (Dianne Wiest), welche sehr wohlhabend ist und keinerlei Familie in der Hinterhand zu haben scheint, welche nur unnötige Fragen wegen des Verlustes der Vormundschaft stellen könnte. Da liegt es auf der Hand, die ältere, alleinlebende Dame, die leichte Zeichen von Vergesslichkeit zeigt, sofort zu entmündigen, sie in ein Heim zu stecken und derweil ihr Haus auszuräumen. Allerdings ist irgendetwas faul an Jennifers Reichtum und das könnte mit Roman Lunyov (Peter Dinslake) zu tun haben, der in noch viel bösere Geschäfte involviert ist als Marla Greyson.
„I Care a Lot“ ist eine Satire, bei der man anfangs ausschalten möchte, weil wirklich alle Charaktere so bösartig und niederträchtig erscheinen und sich hinter der heuchlerischen Fassade der Hilfe, des gepflegten Lächelns und der Eloquenz vor dem Gesetz verstecken, dass man das gar nicht weiter ansehen möchte. Doch trotz, oder gerade wegen dieser Zurschaustellung moralischer Verderbtheit, zieht der Film einen immer mehr in seinen Bann, was insbesondere in der sich entwickelnde Auseinandersetzung zwischen den beiden Kontrahenten Rosamund Pike und Peter Dinslake liegt. Daraus entwickelt die Satire von J Blakeson eine Struktur von fortlaufenden Dichotomien; nicht zwischen „Gut“ und „Böse“, denn hier sind alle mehr oder minder „Böse“, aber zwischen „Weiblich“ und „Männlich“, zwischen „Arm sein“ und „Reich werden“, zwischen Macht und Ohnmacht und zwischen mit dem Gesetz spielender Gewalt der Entmündigung eines Menschen und physischer Gewalt der körperlichen Beeinträchtigung oder gar Vernichtung eines Menschen. Der Clou des Filmes ist dabei, dass er zwischen diesen Gegensätzen eigentlich keine Identifizierungsmöglichkeiten für den Zuschauer zulässt (außer mit den älteren Damen und Herren Opfern, aber die werden zu selten dargestellt), so dass er ein spannendes Seh-Experiment ist, wen man in diesem Wettkampf des Bösen als ersten verlieren sehen möchte. Als Zuschauer findet man sich quasi in einer „Falle“ wieder, welches der vorliegenden Muster an Bösartigkeit man weniger schlimm findet und den finalen Sieg in diesem Wettstreit wünscht[1].
Der Film endet durchaus kontrovers und ich möchte darüber gleichfalls etwas schreiben, also sei an dieser Stelle ein SPOILERALARM gesetzt, für alle die, die „I care a lot“ erst ansehen möchten (um es anders zu formulieren, hören Sie jetzt gefälligst auf zu lesen, sonst wissen sie wie es ausgeht!).
Der Wettstreit zwischen Pike und Dinslake wird bis zum bitteren Ende ausgefochten und doch endet er unentschieden mit dem Ergebnis, dass beide Todfeinde (und selten war ein Wort treffender) miteinander kooperieren und ein nationales Firmenimperium gründen wollen, um legal noch viel mehr Geld zu verdienen. Das ist nachvollziehbar und es lässt uns Zuseher zurück, mit der schon immer gehegten Vermutung, dass hinter dem Aufstieg großer Firmen der ein oder andere illegale Prozess eine Rolle gespielt haben muss. Es impliziert aber auch, dass unsere Welt ein eigentlich schlechter Ort ist, der nur um legal, zivilisiert und freundlich zu wirken, ein nettes Lächeln und mehrere eloquente Sätze bereit hält, in seinem Kern aber menschenfeindlich ist. Das alles zeigt sich im letzten Interview von Marla Greyson, die eine nationale Business-Ikone, eine Selfmade Frau höchsten Ranges, wird und landesweit wohlwollende Aufmerksamkeit generiert, bevor sie ganz am Ende des Films (eine Schleife mit dem Beginn des Streifens bildend) von einem Sohn (Macon Blair) eines ihrer früheren Opfer erschossen wird, der seine Mutter bis zu ihrem Tod nicht mehr sehen durfte, weil sie von Marla entmündigt und ausgenommen wurde. Auch wenn dieses letzte gewaltsame Mittel individuell nachvollziehbar ist (damit ist selbstverständlich nicht gemeint, dass dieses Verhalten legitim oder moralisch richtig ist), so ist es letztendlich doch auch eine Zuspitzung zur finalen Aussage oder besser Frage des Films. Ist eine als korrupt und falsch empfundene Welt, deren Mechanismen auf Gewinnerzielung bzw. Gewinnmaximierung bestehen, bei gleichzeitiger Umdefinierung des Menschen als auszupressendes Produkt und bei einer Manifestierung des Staus quo durch die Beibehaltung des Scheins des Guten mit den Waffen der eloquent ausgefochtenen Legalität, nur noch mit Mitteln der Gewalt zu besiegen ist? Oder anders (und weniger lang) formuliert, wie menschenfeindlich ist unsere vom Menschen gemachte Welt heutzutage und wie könnten wir diese Welt zum „wirklich Guten“ verändern?
Selbstverständlich gibt diese Satire darauf keine Antwort, denn sie prangert nur an. Aber allein das dieser Film zu solchen Gedanken anregt, macht ihn sehenswert. Dazu kommt das bereits angesprochene Duell zwischen Pike und Dinslake, ein ziemlich guter Soundtrack (kann man eigentlich einen Fehler machen, wenn man DJ Shadow für Abspann nutzt?) und ein Ende präsentiert, das wenn auch vielleicht nicht brillant, so doch durchaus kontrovers ist. Dabei spielt es auch keine große Rolle, dass die Geschichte manchmal etwas überdreht wirkt und die Handlungsstränge im Detail nicht immer vollkommen nachvollziehbar sind.
[1] Ich muss an dieser Stelle zugeben, ich würde zu gern eine Umfrage starten, wer zu welcher Seite im Film gehalten hat. Was sagt das über uns, die Zuschauer aus? Mit welchen Zuständen können wir letztendlich mitgehen, wenn wir die Wahl zwischen Pest und Cholera haben und wie sehr springen unsere Vorurteile, unser Wunsch nach Fairness und unsere Rachegelüste je nach Muster von Bösartigkeit an.