„Alle Seelen“ ist zu den früheren Werken von Javier Marías zu zählen. Da ich schon eine Weile nichts mehr vom Madrilenen gelesen hatte und mich irgendwie nicht an das Opus Magnum „Dein Gesicht morgen“ traue (weil ganz schön lang) habe ich mir eben einen etwas älteren und auch kürzeren Roman besorgt. Dieser wurde 1989 veröffentlicht und handelt von einem spanischen Dozenten, der zwei Jahre lang in Oxford an der Universität arbeitet. In dieser Zeit, die ihm verwirrend und unklar vorkommt, in der er nicht sein eigentliches Leben zu leben scheint, lernt er einige neue Menschen kennen, die aber allessamt nach jenen zwei Jahren aus seinem Leben entschwinden. So wie Cromer-Blake, sein Kollege und Freund vom Department für spanische Literatur oder Rylands, die graue Eminenz der Literaturwissenschaften in Oxford. Nicht zu vergessen Claire Baynes, selbst Dozentin, die zur Geliebten des namenlosen Ich-Erzählers wird und das obwohl sie einen Mann und einen Sohn hat.
„Alle Seelen“ ist ein Roman über Oxford und das Leben unter Wissenschaftlern, dass bei Marías nicht immer nur gut wegkommt. Vielmehr ist es ein Rückblick an zwei außergewöhnliche Jahre, über das Leben an einem fremden Ort, in einer Einsamkeit ohne Einsam zu sein. Ein Roman über eine Affäre, über den Tod, über Begehren, aber auch über Bücher und den Lauf des Lebens. Im Mittelpunkt, und das macht das Buch sehr lesenswert, steht die Frage, wie sehr eine Ausnahmesituation (also wie hier: ein vorher schon klar definierter Auslandsaufenthalt), etwas was man nicht als sein eigentliches Leben begreift, doch eben dieses Leben ist, oder immerhin dieses später prägt. Allerdings ist das Buch manchmal etwas zu verkopft, sind Passagen ein wenig zu lang geraten, weil sie den Gedankengang des Ich-Erzählers bis ins Letzte ausleuchten wollen und man meint als Leser, dass schon vorher verstanden zu haben. Trotzdem ein interessantes Buch über zwei Jahre an einer englischen Eliteuniversität, erzählt von jemand der nie vorhatte länger zu bleiben.