Erschien 2021 im gleichnamigen Original | Deutsche Übersetzung von Bettina Abarbanell | 2011 bei Rowohlt | 832 Seiten
Und wieder ergänzte der Weihnachtsmann meine Bücherliste[1] mit einem „+1“, denn er legte einen Büchergutschein unter die Tanne. Im Januar war schnell klar, dass es der neue – mittlerweile 6. – Roman von Jonathan Franzen sein soll, welchen ich im Buchhandel dafür einlösen würden, denn nicht nur lag eine Kopie des Werkes augenfreundlich gut ausgelegt, Franzen gehört auch in die Top 10 Liste meiner Lieblingsautoren.[2]
Es ist der 23.Dezember 1971 und bei der Pfarrersfamilie Hildebrandt, wohnhaft in einem Chicagoer Vorort, sollten die letzten Vorbereitungen für das anstehende Weihnachtsfest laufen. Doch dieses Jahr scheint sich die Familie in ihre individuellen Einzelteile zu zerbröseln. Vater Russ ist verliebt, aber nicht mehr in seine Frau Marion, sondern in das Gemeindemitglied Francess Cottrell und er sehnt einer gemeinsamen Fahrt mit ihr – in einen benachteiligten Stadtteil – entgegen, weniger um den dortigen Gemeindemitgliedern zu helfen, sondern hauptsächlich, um etwas Zeit mit Francess verbringen zu dürfen. Marion wiederum ist in eine Lebenskrise geraten, die gar nicht nur damit zu tun hat, dass ihr Mann – obwohl er es versucht zu verheimlichen – in eine andere Frau verliebt ist, sondern weil die psychischen Probleme ihrer Jugend wieder in ihr aufploppen und sie sich fragt, ob die verrückte, wilde Frau, die sie mal war, immer noch in ihr ist. Der älteste Sohn Clem kommt aus dem College nach Hause, aber auch er hat bemerkenswerte Monate verbracht. Statt für seine Ausbildung zu lernen, hat er die Vorzüge körperlicher Liebe mit seiner neuen Freundin Sharon genossen, doch irgendwie spukt seine Schwester Becky in seinem Kopf herum, denn beide sind ein Herz und eine Seele. Becky wiederum – vom lieben Gott mit ergreifender Schönheit ausgestattet – ist eher ein zurückhaltendes Wesen und steht trotzdem – sowohl wegen ihrer äußeren Werte, als auch wegen ihrem cleveren zurückhaltenden Sozialverhalten – im Mittelpunkt der Highschool. Sie hat sich vor kurzem Crossroads angeschlossen, einer kirchlichen Jugendorganisation, welche Russ einst gründete, aus welcher er aber vor drei Jahren schmählich ausschied und die heute von Jugendpfarrer Rick Amborse geleitet wird, der von seinen jungen Mitgliedern verehrt und von Russ gehasst wird. In jener Jugendgruppe ist auch schon Perry Mitglied. Er ist er mit Abstand der intelligenteste Spross der Familie und lässt dies auch seine Umwelt merken und so ist er auch nur in Crossroads eingetreten, um dort in den Kreis der am höchst angesehensten Mitglieder aufzusteigen, nicht weil er die Idee der Gemeinschaft besonders anziehend fände, sondern weil er es als ein Spiel betrachtet, dass er gewinnen möchte.
„Crossroads“ ist wieder ein Roman in der Franzenschen Spezialdisziplin, der Beschreibung von Familien und den Brüchen in ihrem Zusammenleben. Sein neuester Roman lässt dabei alle Darstellungen gesellschaftlicher Probleme weit in den Hintergrund verschwinden (anders als beispielsweise in seinem letzten Werk „Unschuld“) und fokussiert auf die Beschreibung seiner handelnden Figuren. Zwar kommt in „Crossroads“ der Vietnam-Krieg vor oder es wird das Thema soziale Ungleichheit beleuchtet, aber das sind nur Geschehnisse der Zeit, die eine gewisse Relevanz für die Figuren haben und nicht selbst beschrieben werden. Durch diese Reduktion gewinnt Franzen eine Tiefenwirkung seiner Figuren, die beeindruckend ist und fast schon eine Sogwirkung auf den Leser auf den über 800 Seiten ausüben, eines Romans, der nur der erste Teil einer Trilogie, mit dem wohlklingenden Namen „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“ ist. Abwechselnd werden immer wieder die Perspektiven der Familienmitglieder erzählt (nicht beschrieben wird der jüngste Spross der Familie, Judson[3]), und diese wandeln sich im Laufe der Lektüre manchmal nicht unerheblich, so wie die Sympathien die Franzen ihnen mitgibt und dann wieder entzieht.[4] Diese individuellen Perspektiven sind es, welche die Sprengkraft in den Familialen-Bund hineintragen. Dabei werden alle möglichen Formen von Liebe (von der Liebe zu seinen Geschwistern, über das Verliebtsein in einen anderen Menschen bis hin zur Obsession einer anderen Person gegenüber) sowohl zum Kitt, als auch zum Riss in den Beziehungen. Jede Figur findet unterschiedliche Motive im Glauben und / oder der Moral und dem Abwägen, was sozial erwünscht bzw. verlangt wird oder individuell gewollt ist. Das alles ist in seiner Detailliertheit und seinem Facettenreichtum großartig von Franzen inszeniert. Ein spannend und abwechslungsreich zu lesendes Buch mit einem großen Tiefgang und sicherlich nach „Korrekturen“ der nächste Roman, den man nicht so schnell vergessen wird, denn auch wenn am 23. Dezember 1971 bei den Hildebrandts eigentlich nichts Weltbewegendes passiert, ist es dieser Tag, der die Familie verändern wird.
[1] Das dieses Jahr Bücherlisten keine so große Rolle mehr für mein leseverhalten spielen, werde ich in einem anderen Artikel näher beleuchten.
[2] Ich drücke mich etwas um diese Liste, nicht nur weil Listen immer eine eigenartige Hierarchie suggerieren, die es gar nicht gibt, sondern auch weil ich dies tatsächlich schwer finden würde. An anderer Stelle habe ich einmal eine biographisch-chronologische Leselinie gezeichnet und mit Erschrecken heute festgestellt, dass dort Franzen gar nicht auftaucht!
[3] Ich wette an dieser Stelle, dass er ein Hauptakteur des 2.Teils werden wird.
[4] Ein gutes Beispiel ist Vater Ross. Mit ihm und seiner Verliebtheit beginnt das Buch fast beschwingt, bevor genau das zum vielleicht größten Auslöser der familialen Krise wird. Dadurch wird er schnell zu einer unsympathischen Figur, nur um sich dann im weiteren Verlauf wieder zu drehen (oder vielleicht auch nicht, ganz wie Sie als Leser das beurteilen mögen).