Irgendwo in der Prignitz hat Juli Zeh Unterleuten gesetzt, ein fiktives Dörfchen rund eine Fahrstunde von Berlin weg. Ein Vogelschutzgebiet, der nahe Wald und die ruhige Lage, weit weg von urbaner Hektik, scheinen die kleine Siedlung, zu einem entspannten Ort im Nirgendwo zu machen. Hier leben, teilweise seit einigen Generationen, Familien wie die Grombowkis und die Krons, zusammen mit neu Zugezogenen wie den Fließ und Franzens. Man kennt sich, man grüßt sich, man hilft sich, man ignoriert sich oder man hasst sich. Dieses eher verschlafene Dorfleben, das gerade unter einer großen Sommerhitze schwitzt, wird aufgerüttelt von einer Nachricht oder besser einer Möglichkeit, die das Dorfleben verändern soll.
Juli Zehl legt mit „Unter Leuten“ aus dem Jahr 2016 einen Gesellschaftsroman vor, der sich wie ein großes Panorama ganz vielen Themen der letzten Jahre bzw. Jahrzehnte widmet. Der Roman kontrastiert Stadt und Land, in dem er insbesondere junge Städter auf dem Sehnsuchtsort Land zeigt und die mentalen Unterschiede zwischen urbanen und dörflichen Leben porträtiert, so wie es die „Einheimischen“ seit Jahrzehnten Leben. Daran schließt sich fast fließend das Motiv unterschiedlicher Mentalitäten zwischen Ost- und Westdeutschen an, wobei man vielleicht etwas verkürzt sagen könnte, dass die schrulligen Dörfler Ossis und die abgedrehten Neuankömmlinge im Dorf Wessis sind. So entwickelt sich dieses Buch zu einer Studie über Werte, Traditionen und Normen zwischen den Motiven von Heimat, Familie und Geld.
Strukturell wird dies in einen Erzählstil eingebettet, der pro Kapitel je einen anderen Dorfbewohner beschreibt und deren gegenwärtige Handlungen mit Einschüben aus der Vergangenheit ergänzt werden. Das hat den großen Vorteil das unterschiedliche Perspektiven des Dorflebens aufgezeigt werden, dass man sich in die Beweggründe der Bewohner hineinversetzt fühlt und lernt, das wenn Grombowski denkt, er würde etwas für das Dorf tun, Kron ihn für diese Handlung für einen lausigen Kapitalisten hält. Als Kaleidoskop von Charakteren, die sich immer wieder neuen Situationen im Dorfleben stellen müssen, funktioniert das sehr, sehr gut und Julie Zeh schafft es, dass jede Figur klar gezeichnet ist und alle Handlungen nachvollziehbar wirken. Dabei erzählt „Unter Leuten“ Familiengeschichten, die weit in die Vergangenheit zurückreichen und noch vom Unrecht der DDR künden. Das Dorf hat seine Geheimnisse und ungelösten Unglücke, welche einen Teil des Spannungsbogen ausmachen.[1] Auffällig ist, dass es fast allen Figuren im Roman an einem Mindestmaß an Empathie fehlt, was auch dazu führt das Kommunikation oder besser gesagt Verstehen zwischen den „Leuten“ häufig scheitert. Das kann der Leser zeitdiagnostisch und gesellschaftskritisch lesen als eine Kritik der Welt, in welcher jeder recht radikal nur an sich denkt, den anderen (sei es der eigene Partner, das eigene Kind oder der Nachbar) nicht versteht und aus dieser Alleingelassenheit sich sein Leben zimmert. Das bereitet dem Leser an der ein oder anderen Stelle das Gefühl, als sei menschliche Kommunikation ein Kampf um das richtige Wort, den richtigen Tonfall, zur richtigen Zeit, als wäre alles was zwischen uns passiert Strategie, um den eigenen Standpunkt zu verbessern. Man fragt sich dann tatsächlich, wie sich Menschen dabei überhaupt verlieben oder befreundet sein sollen, weil Rollenspiel das wichtigste Fundament von Kommunikation zu sein scheint und andere Menschen kaum wirklich faszinieren, sondern immer der „eigene Standpunkt in der Welt der Anderen“ im Mittelpunkt steht. Das wirkt – dann auch beabsichtigt – wie eine zeitgenössische Reportage über Menschen, die aber in die Menschen nicht hereinschauen kann, sondern immer nur ihren Standpunkt diagnostiziert. Diese Erzählperspektive wird sogar in einem eher misslungenen letzten Kapitel verdeutlicht. Dieses letzte Kapitel wirkt dann leicht befremdlich, wie eine schnelle Weiterführung der Ereignisse, nach dem Ende der eigentlichen Geschichte und wäre gar nicht wirklich notwendig gewesen.
Das ist alles Kritik, die hier zu umfangreich wirkt, denn „Unter Leuten“ ist ein wirklich spannend zu lesendes Buch. Man ist als Leser eingeladen über die Seiten, wie ein Kampfläufer (der Vogel, welcher im Naturschutzgebiet von Unterleuten geschützt wird) der geschwind über das Dorf seine Runden dreht, zu fliegen, denn der Roman lässt einen nicht wirklich los. Als gesellschaftskritischer Roman über Stadt und Land ist das Buch ebenfalls sehr lesenswert und besonders die moralischen Implikationen des Endes des Buches sind sehr spannend.[2]
[1] Ich habe lange überlegt, wie wichtig mir die folgende Kritik ist, aber ich möchte sie nicht unerwähnt lassen, denn tatsächlich verfängt sich hier die Perspektivität der Erzählung nicht immer, denn ein wichtiger Handlungsstrang des Romans bezieht sich auf eine verhängnisvolle Nacht im November 1991, in welcher ein Dorfbewohner starb und ein anderer verkrüppelt wurde. Um die Spannung im Roman hochzuhalten, wird dieses Geheimnis (fast eher beiläufig) erst am Ende der etwas mehr als 600 Seiten beschrieben. Dadurch scheint es bei den perspektivischen Erzählungen der Figuren, immer wieder Leerstellen zu geben, die etwas ungewöhnlich erscheinen, weil sie schlicht nicht erwähnt werden. Diese Leerstellen erklären sich zwar dem Leser im Laufe der Erklärung, aber sie werden eben bewusst ausgelassen und so entsteht das Gefühl, das man nicht weiß, ob der Erzähler des Romans aus spannungsgründen Informationen zurückhält, oder ob die beschriebene Person diese Erinnerungen für sich ausgelöscht hat. Ein Beispiel soll dies näher zeigen. Die Lebensmotivation des Dorf Oligarchen Gromboswski, wird im Roman aus einer gewaltsamen Enteignung seiner Familie in den 1960er Jahren beschrieben. Er möchte dieses Unrecht zurückdrehen. Diese Orientierung erscheint aber nur bis zum oben angedeuteten Ereignis 1991 handlungsleitend zu wirken, danach sind es eher die Ereignisse jener Nacht, die für sein Leben Verhaltenskonsequenzen haben. Jetzt könnte man einwenden, dass Grombowski unter einer Art Selbstbetrug lebt und dies verdrängt oder nicht einsehen will und tatsächlich ist es eine Stärke des Romans die Perspektiven der Akteure wie eine Motivationsautobahn durchzuspielen, aber darin liegt letztendlich auch die Feststellung, dass alle Figuren in Unterleuten seltsam Ich-bezogen sind.
[2] Durch die Perspektivität des Buches ist gar nicht so klar, wer wirklich der Böse im Buch ist, oder wer Gut ist, was ich für eine große Stärke der Struktur des Romans halte. So kann man das Ende der Erzählung sowohl als tragisch, als auch als Happy End lesen und auch die Rolle der Figuren und deren Bewertung entzieht sich einem starren Schema, Gut-Böse, Dumm-Klug. Das ist ein weiteres Argument, warum „Unter Leuten“ ein sowohl kurzweiliges, aber auch hintergründig zu lesendes Buch ist.