Erschien 1998 im spanischen Original („Los detectives salvajes“) | deutsche Übersetzung von Heinrich von Berenberg erschien 2002 bei Carl Hanser (hier vorliegend als Taschenbuch bei Fischer 2018) | 688 Seiten
Der Monat April in diesem Jahr sah zwei wichtige Geburtstage in meinem Leben. Aber eigentlich kann man das so nicht sagen, denn beide Geburtstage betreffen nicht lebende, biologische Körper und eine Gratulation meinerseits wäre unerheblich bzw. irreführend, weshalb ich an beide Ereignisse hier per Blog erinnern möchte. Am 12. des Monats wurde die ruhmreiche SG Dynamo Dresden 70 Jahre alt, ein Verein, der mir tatsächlich schon Tränen der Freude, als auch der Trauer bescherte, der mich regelmäßig an der Vernunft menschlicher Zivilisation zweifeln lässt, aber auch an der Großartigkeit gemeinsamer Communitas-Erfahrungen hat teilhaben lassen. Hier darf ich an dieser Stelle meinen Wunsch zum Ausdruck bringen, dass ich den schwarz-gelben Hornissen noch viele Jahre gewogen sein werde und ihre Tore mein Herz erfreuen.
Ein anderer Geburtstag wäre heute gewesen. Am 28.4. wäre Roberto Bolaño 70 Jahre alt geworden (hier muss der Konjunktiv des Präteritums ran, denn Bolaño starb, wie bereits im Artikel zu seinem Roman „2666“ erwähnt, vor knapp 20 Jahren) und für mich war dies ein guter Grund seinen Roman „Die wilden Detektive“ bis zu seinem (vermeintlichen und nur von seinen Lesern zelebrierten) Ehrentag zu vollenden.
„Die wilden Detektive“ ist ein Roman in drei Teilen. Teil eins „Mexikaner, verloren in Mexiko“ besteht aus Tagebuchenträgen von November 1975 bis zum Silvestertag, des 17-jährigen Juan García Madero, der als junger Student die Literatengruppe der Realviszeralisten,[1] um Arturo Belano und Ulises Lima kennenlernt. Was die Gedichte dieser Literaturrichtung ausmacht ist nicht klar, aber dafür bestärkt man sich gegenseitig in der Ablehnung althergebrachter Poesie und der damit einhergehenden Selbsteinschätzung, zur Avantgarde zu gehören. Aber nicht nur die Liebe zur Literatur hat es Juan García Madero angetan, das Literatenleben öffnet ihn vollkommen neue Perspektiven auf das andere Geschlecht.
Nach rund 150 Seiten beginnt der zweite Teil, mit dem Romangebenden Titel: „Die wilden Detektive“. Hier werden auf über 450 Seiten Zeitzeugenaussagen aufgenommen, die sich mit den beiden Protagonisten des Realviszeralismus, Belano und Lima beschäftigen. Über 20 Jahre hinweg begleiten wir deren Schicksal und stellen fest, dass sie und ihr literarisches Werk fast vollständig in Vergessenheit geraten sind und beide ein Leben in Armut, Melancholie und am Rande von Tod, Wahnsinn, Liebe und Erschöpfung führen.
Teil drei „Die Wüste von Sonora“ führt uns zurück zu den Tagebucheinträgen von Juan Garcia Madero, die am Neujahrstag 1976 fortgesetzt werden.[2]
Tja, wo soll ich beginnen lieber Leser. Meine Gedanken zu diesem Buch kann ich fast nicht einfangen, denn es ist großartiges, vielfältiges Buch, ein wirklich kolossaler Lesespaß. Nähern wir uns an. Vor einigen Tagen fotografierte ich bei „BeReal“[3] eine Seite des Buches, weil ich gerade in einem hiesigen Starbucks einen Tee trank. Ich bekam dabei die Rückmeldung (sogar in der realen Welt), dass die vielen Zeilen nicht unbedingt leicht lesbar waren. Tatsächlich ist Bolaños Stil, der manchmal absatzlos über Seiten hinwegführt, manchmal etwas komplex und die Sätze lang und gespickt mit allerlei Fremdwörtern. Ich habe für mich schnell ein einfaches Mittel gefunden, bei dem sich mir der Lesespaß fast noch verdoppelt hat. Ich habe mir große Teile des Buches laut vorgelesen.[4] In diesem Moment entfalten Bolaños Zeilen einen unglaublichen Zauber, als würden sie in einer Bar sitzen und ihnen ein Erzähler eine fesselnde Geschichte erzählen. Ich versuche das für Sie an dieser Stelle nachzusprechen[5]:
Sehen Sie mir nach, wenn meine Stimme hier vielleicht etwas irritiert, ich bin mir sicher, Ihre eigenen Laute werden sie mehr überzeugen, aber darum geht es nicht. „Die wilden Detektive“ ist ein herausragend (vor) zu lesendes Buch.
Inhaltlich ist es ein sehr vielfältiges Werk. Dazu an dieser Stelle nur einige Gedanken, die mir durch den Kopf schießen. „Die wilden Detektive“ sind Literatur über Literaten, denn ihre Haupthelden sind die beiden „Möchtegern“-Poeten Arturo Belano und Ulises Lima, Begründer einer Literaturgattung, von der man inhaltlich nichts erfährt und die schon sehr bald von den Mitmenschen vergessen werden wird. Auch erfahren wir als Leser nie etwas direkt von den Beiden, denn entweder werden sie in den Tagebucheinträgen von Garcia Madero besprochen, der beide als eine Art von schriftstellerischen Vorbildern ansieht, oder wir lesen von Augenzeugen, die sich verteilt über 20 Jahre an Belano oder Lima erinnern. Ein wichtiges Motiv wird schon im Jahr 1975 gerahmt und das ist die Suche nach der mexikanischen Autorin Cesárea Tinajero,[6] die in den 1920er und 30 Jahren den Vizeralismus mitgründete und von der es fast keine literarische Überlieferung gibt. Und so sind „die wilden Detektive“ ein Buch, dass uns das Suchen in ganz vielen Facetten immer wieder neu vorstellt, so beispielsweise;
als die Suche nach einem Ausdruck über das Befinden in der Welt, das wir bei Garcia Madero finden, der nicht Anwalt sondern Schriftsteller werden will und dabei sich selbst hinterfragt und sich selbst und seine Fähigkeit zur Konkupiszenz findet aber mehr noch, dabei seine erste Liebe findet.
Als Suche nach einer Ausdrucksform für die Beschaffenheit der Welt, wenn einem diese Welt nicht richtig dargestellt vorkommt, so wie es die Autoren des realen Viszeralismus versuchen.
Als eine Suche nach Traditionen und Erben, so wie Belano und Lima nach Tinajeros Spuren suchen.
Als eine Suche nach dem, was Dichtung (oder vielleicht etwas basaler: Erzählen) ausmacht und vor allem, wie man auf Dichtung schauen kann.[7]
Als eine Suche nach dem Griff ins Leben, nachdem Festhalten und dem immer wieder weggespült werden, was sowohl Belano, als auch Lima erfahren, die in ihren Biographien durch die Welt wandeln, ohne dass sich ein Gefühl von Heimat bei ihnen verorten lässt, ja nicht mal ein Gefühl davon, wer diese beiden Menschen eigentlich sind.
Auf der Suche, was das Leben in Mexiko, in den 1970er Jahren ausmacht.
Als eine Suche nach dem Ende, denn Enden bergen letztendlich Sinn, nur allein deshalb weil sie beenden.[8]
Und letztendlich suchen wir Leser, in „Die wilden Detektive“ nach etwas, was uns vom Ausdruck über das Leben erzählt, und wir werden ein Panorama finden, das seinesgleichen sucht. Die Lust auf das Leben ist in diesem Buch fast auf jeder Seite zu spüren, das wilde Verlangen der handelnden Akteure auf Sex und dessen oftmalige Erfüllung (trotzdem ist das Buch nicht wirklich erotisch, es ist eher ein Ausdruck des Auspressens des Lebens), die Hoffnung sich Ausdrücken zu können und dafür den richtigen Weg zu finden, die Chance seine Emotionen auszudrücken und zu leben.[9] Das alles verpackt Bolaño in wundervoll geschriebene Literatur, in eines (vielleicht sogar das) beste Buch, was ich bisher las.
Doch ich möchte an dieser Stelle innehalten. Schon nach „2666“ wollte ich etwas mehr Gedanken zu Bolaños Werk sammeln, weshalb ich mich nun etwas auf die Sekundärliteratur stürzen werden.[10] Und mich in einiger Zeit mit weiteren Ideen zurückmelden werde.
[1] Bevor sie sich, wie ich, die Mühe machen, den Realviszeralismus zu googlen. Natürlich gibt es keine solche Bewegung.
[2] Wer, so wie ich „2666“ von Bolaño zuerst gelesen hat, wird hier eine ganze Menge an Anspielungen finden.
[3] Eine dieser vielen Apps unserer Tage, aus denen wir etwas mehr Sinn aus dem Alltag herauszuholen vermeinen und uns in der virtuellen Verbundenheit der Welt zelebrieren. Das Sympathische an „BeReal“ ist dabei vielleicht, der Versuch Authentizität für die Internetfiliale des eigenen Selbst zu erschaffen.
[4] Das laute Vorlesen von Büchern ist ein wundervolles Vergnügen.
[5] Dieser Abschnitt ist in Teil eins auf S.31 zu finden und gibt einen kleinen Überblick über das Geschehen bei den Literaten. Das Schöne an diesem kleinen Tagebucheintrag ist, dass schon hier der Grundtenor der Detektivgeschichte über den Realviszeralismus klar wird. Als Leser versuchen wir dahinterzukommen, was es damit auf sich hat, aber immer wieder lesen wir ganz unterschiedliche Beschreibungen, hier beispielsweise wird Belanos Rolle für den Realviszeralismus fast negiert.
[6] Siehe Fußnote 1.
[7] Großartig die Kapitel 22, das sich sehr humorvoll mit der Angst um eine schlechte Kritik beschäftigt und Kapitel 23, dass verschiedene Schriftsteller über das Thema Dichterehre referieren lässt.
[8] Beeindruckend sind zu diesem Thema die Kapitel die Kapitel 24 und 25.
[9] Es gibt eine wundervolle amour fou Geschichte in Kapitel 19, in der von einer ewigen Liebe sinniert wird.
[10] Ich muss Ihnen etwas beichten, lieber Leser (und Fußnoten sind ein prima Ort, um etwas zu beichten (nur Klammern in Fußnoten sind noch besser)). Ich hatte schon nach „2666“ angefangen Sekundärliteratur zu lesen, aber in der mir vorliegenden Interpretation zum Werk, wurde kapitelweise über die „Wilden Detektive“ verhandelt. Daraufhin stoppte ich das Studium der Sekundärliteratur, um mich erstmal zur Primärliteratur zurückzubegeben und nun wieder zurück zur Sekundärliteratur zu gehen. Der mehr als angenehme Nebeneffekt dabei ist es, so eines der besten Bücher meines Lebens gelesen zu haben.