Erschien 1997 im spanischen Original unter der Titel: „Llamadas telefònicas“ | in deutscher Übersetzung von Christian Hansen erschien 2007 bei Carl Hauser hier im dtv-Taschenbuch mit 240 Seiten
Meine Faszination für Roberto Bolaño hatte sich bisher auf seine beiden großartigen Romane „2666“ und „Die wilden Detektive“ beschränkt. Nun wollte ich mit einigen Kurzgeschichten nachlegen und habe mich für „Telefongespräche“ entschieden. Die Sammlung von Texten besteht aus drei Teilen mit insgesamt 14 Geschichten.
Der erste Teil mit dem Titel „Telefongespräche“ ist thematisch der Autorenschaft und dem Leben als (unbedeutender) Schriftsteller gewidmet. In „Sensini“ berichtet ein Erzähler von seinem schriftstellerischen Versuchen und wie er eine Brieffreundschaft mit dem ebenso im spanischen Exil lebenden chilenischen Autoren Sensini betreibt, welcher sein Geld mit Literaturpreisen zu verdienen versucht. „Henri Simon Leprince“ beschreibt einen schlechten Schriftsteller, der im besetzten Frankreich des 2.Weltkrieges, hervorragende Autoren aus den Fängen der Nazis hilft. „Enrique Martín“ ist eine Kriminalgeschichte über einen scheinbar zunehmend dem Wahnsinn zu verfallenden Schreiberling. „Ein literarisches Abenteuer“ beschäftigt sich mit Fragen der Kritik eines Textes, Schuld und Authentizität. „Telefongespräche“ ist wiederum eine verflossene Liebesgeschichte, die immer wieder auflebt.
Teil 2 „Kriminalbeamte“ beginnt mit „Der Wurm“ und handelt von zwei eher ungleichen Menschen, die sich täglich auf einer Parkbank in Mexiko-City sehen. „Der Schnee“ handelt von einem chilenischen Sohn eines Kommunisten, der nach dem Pinochet-Putsch mit seiner Familie nach Russland flüchten musste, um dort zum Gauner zu werden. „Noch eine russische Erzählung“ ist noch eine russische Erzählung über einen Sevillaner, der im 2.Weltkrieg bei der deutschen Heeresgruppe Nord kämpfte. „William Burns“ erzählt die Geschichte des eher ruhigen Amerikaners William Burns, der mit zwei Frauen zusammenlebte, bevor er seine Nerven verlor. „Kriminalbeamte“ wiederum scheint eine autobiografisch inspirierte Erzählung von Bolaño zu sein, in dem sein Alter Ego Arturo Belano in chilenische Haft nach dem Pinochet-Putsch gerät (ebenso wie Bolaño).
Teil drei „Anne Moores Leben“ fokussiert auf die Themen von Beziehungen, Gewalt und Sex. In „Zellengenossen“ berichtet uns der Ich-Erzähler von einer Bekannten, die wie er eine kurze Zeit im Gefängnis als politische Gefangene inhaftiert war. In „Clara“ erleben wir die Geschichte einer Liebe, die nie zu einer wirklichen Beziehung führte und tragisch endete. „Joanna Silvestri“ ist die Geschichte einer Pornodarstellerin, die nach Los Angeles fährt, um dort zu drehen und den alternden Szenestar Jack Holmes zu treffen. „Anne Moores Leben“ wiederum erzählt das Leben einer Frau, deren Kindheit mit einem beklemmenden Ereignis endete, als sie zusammen mit ihrer Schwester Susan in das Auto des Nachbarsjungen Fred steigen. Annes Leben scheint ruhig weiterzugehen, wird jedoch rastloser und das mit zunehmender Geschwindigkeit, umso älter sie wird.
Bolaños Geschichten sind zumeist intensive Darstellungen der Beziehung von Menschen zueinander oder von Lebensentwürfen mit einer mal stärker, mal unscheinbarer hereinbrechenden Tragik. Einige Geschichten sind ironisch und humorvoll, andere ernst. Im ersten Teil spielt Bolaño ganz wunderbar mit seiner eigenen Biografie, denn ein wohlverdienender Schriftsteller war er nie wirklich und erst in seinen letzten Lebensjahren bekamen seine Texte eine gewisse Anerkennung. Es sind Erzählungen über die Mühen der Schriftstellerei, sowohl was Anerkennung und finanziellen Erfolg (oder auch nur Lebensunterhalt) betrifft, als auch über die Frage von Qualität, von Berufung und Können, die immer wieder durchschimmern. Obwohl die Geschichten von Teil zwei gut zu erinnern sind, kommen sie mir etwas schwächer vor. Sie scheinen Ereignissen im Leben gewidmet zu sein, welche besondere Charakteristika im Menschen herausbilden. Teil drei knüpft thematisch an diese Konstellation an, stellt aber vielmehr zwischenmenschliche Beziehungen und die Rolle von Sex als teilweise treibende, die Handlungen von Menschen leitende Kraft, in den Fokus. Die Biografie von Anne Moore bleibt sehr eindrucksvoll in Erinnerung, ist sie doch das Gegenteil eines sich beruhigenden und seinen Platz findenden Lebens.
Wer statt der großen und tatsächlich sehr umfangreichen Romane einen ersten Eindruck von Bolaño erhalten möchte, der bekommt in „Telefongespräche“ einen sehr schönen Eindruck von einem der wunderbarsten Erzähler der Zeit um die Jahrtausendwende, dessen Ruhm sich erst nach seinem Tod international verbreitete.