Autobiographien geraten bei mir normalerweise nicht so schnell in den Fokus und ich tue mich häufig recht schwer damit, denn ich muss von einem Menschen schon sehr fasziniert sein, wenn ich mehr von ihm erfahren möchte. Von Stefan Zweig bin ich sehr fasziniert und seine Autobiographie „Die Welt von gestern“ stand bei mir schon seit meinen Studienzeiten auf der Leseliste (ich erinnere mich an die Lobpreisung des Autors von einer meiner Geschichtsdozenten in der Uni), aber erst meine neuerliche Hinwendung zum meistverkauften deutschen Schriftsteller der 1.Hälfte des 20. Jahrhunderts, ließ keinen Aufschub mehr zu. Das rund 550 Seiten starke Buch ist persönlich für mich nochmal interessanter, da Zweig mehr oder weniger 100 Jahre vor mir geboren wurde und man dadurch wie durch einen zeitlichen Spiegel schauen kann, mit welchem Alter er die historischen Ereignisse der Kaiserzeit, des 1.Weltkriegs, der Weimarer Republik oder des 3.Reiches beobachtet hat und wie alt ich gewesen wäre, wäre ich ein Jahrhundert früher geboren worden. Die Faszination dieses Buches macht aber nicht wirklich diese Konstellation aus, sie besteht in zwei anderen Punkten.
Zum einen aus dem Leben, das Zweig führte. Aufgewachsen in einer großbürgerlich jüdischen Familie in Wien am Ende des 19. Jahrhunderts, begeistert er sich schon früh für das Theater und die Schriftstellerei. Tatsächlich gelingt es ihm ein Autor zu werden und erste Erfolge stellen sich schnell ein und er begegnet den unterschiedlichsten Persönlichkeiten der Kunstwelt. Zweig entwickelt sich zu einem wahren Kosmopoliten, Verfechter Europas und strikten Pazifisten, was ich nicht nur sehr sympathisch, sondern auch außerordentlich spannend finde, denn Zweig trifft mit seinem politischen und literarischen Engagement, das „who is who“ seiner Zeit und das in ganz Europa. Wir erleben nicht nur Begegnungen mit deutschsprachigen Persönlichkeiten wie Walther Rathenau, Sigmund Freud, Reiner Maria Rilke, Richard Strauß, sondern dank Zweigs hervorragenden sprachlichen Begabung konnte er auch Romain Rolland, Salvador Dali oder Maxim Gorki kennen lernen.
Zum anderen ist „Die Welt von gestern“ ein Werk, das einen tiefen Einblick in die ersten 40 Jahre des 20. Jahrhunderts gibt. Schon der Titel beschreibt den Zeitenbruch, der zwischen dem Kaiserreich und dem 1.Weltkrieg liegt und der sich zu einem lebensgefährlichen Höllenschlund entwickelt, als Nationalismen Europa unerbittlich erobern und die alte Welt endgültig mit Hitler verschwindet. Zweig ist dabei nicht nur Zeitzeuge und Chronist politischer Veränderungen, er erlaubt uns auch einen Panoramablick auf das Leben, insbesondere vor dem ersten großen Krieg. Wir können Wien im Fin de siècle erleben, die aufstrebende Weltstadt Berlin, die doch so streng preußisch bleibt oder das Mekka von Kunst und Kultur, Paris. Zweig zeigt uns ein Europa, das nur wenige Dekaden später nicht nur baulich in Schutt und Asche liegen sollte, er beschreibt den Höhepunkt einer europäischen Zeit und den Anfang des Niederganges des alten Kontinents.
Das alles lässt sich nicht ohne Melancholie erzählen, wobei dieses Wort noch zu weich für den Zustand ist, in welchen Zweigs Welt zu Beginn der 1940er Jahre geraten ist. Nimmt man nun das Wissen um Stefan Zweigs letzte Lebensjahre hinzu, wie es sehr eindrücklich in Maria Schraders Film „Vor der Morgenröte“ dargestellt wurde, dann kann man um ein Gefühl der Trauer nicht umhinkommen und der Einschätzung das wir mit dem Europa von gestern etwas Großartiges verloren haben und das es wohl zu einem bekennenden Europäer dazugehört auch diese Melancholie mitzutragen.