Im Juli habe ich an dieser Stelle vom ungeschriebenen Gesetz geschrieben, zwei T.C. Boyle Romane pro Jahr zu lesen. In jenen Tagen war mir nicht bewusst, dass ich noch auf einen Bücherwühltisch treffen würde und ich muss gestehen, es gibt nicht viele Sachen in der weiten Welt des Konsums, die mich mehr affizieren, als gute Bücher aus den Tiefen eines Wühltisches zu angeln. Dort fand ich „Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte“, einen Erzählband des US-Amerikaners, der mit „die besten Stories“ untertitelt war, also so etwas, was man übersetzt auf den Musikmarkt mit „Best Of“ bezeichnen könnte, daher eine Sammlung von Kurzgeschichten, die als solche in jeweils in getrennten Bänden erschienen. So gesehen, bleibt es vorerst bei der Regel zwei Romane von Boyle pro Jahr zu lesen (denn Erzählungen sind eben keine Romane), gleichzeitig habe ich aber das Vergnügen, einen Eindruck von Boyles Short Stories gewonnen zu haben.
Die acht Kurzgeschichten sind vier Bänden entnommen und wurden 2012 erstmals in dieser Zusammenstellung veröffentlicht. Das Buch beginnt mit „Moderne Liebe“ einem sehr aktuellen Text zum Thema Krankheiten und Hygiene, der sich in der Coronakrise nochmal anders liest als im Jahr seiner Veröffentlichung 1989. „Wenn der Fluss voll Whisky wär“ ist die traurige Geschichte eines Familiensommerurlaubs. „Windsbraut“ bringt uns in das kalte und stürmische Alaska und zeigt uns das auch einsame und häufig betrunkene Männer noch Liebe finden können. Auch „Torschlusspuder“ spielt in Alaska (und man ertappt sich dabei, die gleiche Location wie in „Drop City“ zu vermuten) und ist eine „Prä-Dating-App“ Geschichte über eine Damenversteigerung in einer vom Männerüberschuss geprägten Region. „Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte“ ist eine Geschichte von Vätern und der Angst vor Verantwortung im Leben, während „Zu allem bereit“ die Suche einer Aussteigerfamilie beschreibt, die – auch dies ein sehr aktuelles Thema – von Ängsten getrieben, mit der Welt nichts mehr zu tun haben will und sich einen Bunker kauft. „Chicxulub“ ist eine Story über den Aufschlag einer Tragödie im Leben und wie Eltern vom Unfall ihrer Tochter erfahren. „Zähne und Klauen“ schließt den Band mit einem Hinweis, was man in einer Bar lieber nicht tun sollte, wenn man eigentlich nur die Bardame beeindrucken möchte.
Diese acht Geschichten sind, obwohl teilweise über 30 Jahre alt, wunderbar zeitgemäße, aber auch zeitlose Literatur. Manchmal sehr leicht und locker geschrieben, wie bei der ersten und letzten Story, manchmal mit einer großen Tragik, wie bei „Chicxulub“ und manchmal auch leise, aber letztendlich optimistisch erzählt wie in „Als ich heute Morgen aufwachte, war alles weg, was ich mal hatte“. Sehr lesenswerte 200 Seiten, die zumindest mir einen Einstieg in die Welt der Erzählungen von T.C. Boyle eröffneten und nach mehr verlangen!