Jahr: 2020 | Regie und Drehbuch: Christopher Nolan | Science-Fiction-Action-Spionage Film | Länge: 150min
Wo soll ich anfangen? Ich habe „Tenet“ jetzt einmal gesehen und die Frage ist nicht leicht zu beantworten, bei einem Film dessen Komplexität alles übertrifft, was ich bisher in 2,5 Stunden im Kino bewundert habe. Beginnen wir bei der Genre-Einordnung. „Tenet“ ist ein Science Fiction Film, weil er zwar in der Gegenwart spielt, aber von einer Technik der Zukunft erzählt, einer umgekehrten Entropie, welche Objekte temporal invertiert, oder anders formuliert; damit auch die restlichen 99,99% der Weltbevölkerung es nachvollziehen kann; es geht um Objekte die sich in der Zeit rückwärts bewegen, für die also gestern, morgen ist.
„Tenet“ ist gleichfalls ein Spionage Film, weil ein namenloser Geheimagent (John David Washington) mit dieser Technik vertraut wird und den Auftrag erhält herauszubekommen, was dahinter steckt, denn es wird vermutet, dass in der Zukunft eine Art von 3.Weltkrieg herrscht, bei welchem man Dinge in der Zeit zurücksendet, um schlimmstenfalls die Gegenwart zu zerstören.
Und „Tenet“ ist ein Action Film, weil Christopher Nolan, irgendwie einen Narren an vielen und breit aufgezogenen Action-Sequenzen gefressen hat, wenngleich diese Action-Szenen durchaus etwas Innovatives beinhalten und doch viel zu lang geworden sind (ein Problem das schon der Schluss von „Inception“ hatte).
Nach diesen tastenden Heranrücken an den Film, nun so etwas wie eine kurze Angabe, worüber er handelt:
In der Oper von Tallin findet ein terroristischer Überfall statt, bei dem der namenlose Spezialagent, als Mann der CIA eingreift und einen anderen Spion rettet und gleichzeitig ein wertvolles Objekt sichert. Jedoch wird der Spion von russischen Söldnern gefangen genommen und der einzige Ausweg scheint es zu sein, dass der Spion eine Todespille einnimmt, damit er seine Geheimnisse nicht preisgibt. Die Tablette jedoch scheint nicht zu wirken, denn der Spion findet sich gerettet auf einem Schiff wieder und wird auf einen offshore Windpark gebracht, um sich auf neue Einsätze vorzubereiten. Wieder reaktiviert, wird ihm von den temporär invertierten Objekten erzählt und ihm klar gemacht, er solle gefälligst den 3.Weltkrieg, oder gar Schlimmeres, verhindern. Ihm wird mit Neil (Robert Pattinson), ein weiterer Agent als Partner zur Seite gestellt. Ihr erster Weg führt sie zur indischen Waffenhändlerin Priya (Dimple Kapadia), welche wiederum meint, der russische Oligarch Andrei Sator (Kenneth Branagh) wäre in der Lage, radioaktive Waffen zu invertieren. Um an den Oligarchen heranzukommen, muss der Spion sich an dessen Frau Kat (Elizabeth Debicki) heranmachen, welche allerdings ein sehr unterkühltes Verhältnis zu ihrem Gatten pflegt, was wohl nicht nur daran liegt, dass sie – als Kunsthändlerin- ihm einst unabsichtlich einen falschen Goya aufschwatzte, welcher in einem extrem gesicherten Lager im Osloer Flughafen liegt. Spätestens hier (sie merken es vielleicht bereits, geneigter Leser) fängt die Story von „Tenet“ langsam, aber sicher an, komplex zu werden, und zwar so komplex, dass es schier unmöglich ist, die Geschichte in all ihren Komplikationen zu verstehen, geschweige denn sie an dieser Stelle zu erzählen.
Was macht nun aber den Reiz eines Filmes aus, der einfach um Dimensionen zu komplex ist, dass man ihn auf Anhieb verstehen könnte (ich schließe nicht aus, das hochbegabte Menschen, weitaus mehr Zusammenhänge mitnehmen als ich und man könnte sich fragen, ob das erste Ansehen von „Tenet“ auch zu so etwas wie einem Aufmerksamkeitstest, oder einem Test in komplexen Denken dienen könnte)?
Es ist das Spannungsverhältnis der Erzählung, die es erlaubt eine Unmenge von Erzählebenen zu verknüpfen und sich einander begegnen zu lassen. Dazu ein kurzer Spoiler: wie im Laufes des Filmes klar wird, gibt es eine Möglichkeit durch die Zeit zurückzureisen, in dem man sich invertiert. Man bewegt sich quasi von 14:13 Uhr auf 14:12 Uhr zu. Ist man an der gewünschten Zeit angekommen, kann man sich dank eines Zeitflusswechslers wieder in der Zeit vorwärtsbewegen. Der Vorteil ist nun, dass man sich in der Gegenwart ansieht was passiert und im nächsten Moment schon Vergangenheit wird und dann dort hinreist, um ein bisschen daran rum zu Friemeln. Das allein ist schon eine sehr hübsche und innovative Konstruktion für das eher schon häufig verwendete Sujet der Zeitreise in Erzählungen. Was Nolan mit „Tenet“ erschafft, ist einen Film zu zeigen, der beständig die Handlung vorantreibt, der aber manchmal so wirkt, als würde man die Fernbedienung nehmen und einfach den langsam zurückspulen Knopf drücken. Das macht auch die Action-Szenen einzigartig (wenngleich man hier – wie bereits erwähnt – sparen hätte können).
Doch das ist beileibe nicht alles, denn der eigentliche Witz von „Tenet“ ist es, dass er entweder seine Zuschauer verstört und sie nach dem Auftauchen aus dem Kinosessel zurücklässt mit der Aussage, was zum Teufel da die letzten zweieinhalb Stunden gerade abging, oder aber, dass dieser Film sofort dazu einlädt ihn wieder zu sehen (eine ganz ähnliche Idee, wie bei David Foster Wallace Buch „Unendlicher Spaß“). Denn erst wenn dem Zuschauer langsam beim Betrachten des Filmes klar wird, wie die ungefähre Richtung der Erzählung verläuft, wird klar, dass alle Fragen, die man sich stellt (und das sind nicht wenige), irgendwo in der Handlung erklärt werden könnten (nur leider könnte es sein, dass dieser Teil der Handlung schon 30min zurück liegt). „Tenet“ ist also wie ein ästhetisch ansprechendes Wimmelbild. Beim ersten Sehen, erkennt man, um welche Gegend es sich handelt, doch danach fängt man an herausfinden zu wollen, welche Details sich in den Ecken und in Winkeln des Bildes verstecken.
Allerdings bleiben am Ende auch noch Fragen offen, die jedoch insbesondere das Genre der Spionage-Filme insgesamt betrifft. Wie jeder gute Streifen dieser Art verhandelt „Tenet“ das Schicksal der Menschheit im Geheimen. Dunkle Mächte untergraben das Leben und der einzelne Held rettet uns alle und wir bekommen es nicht mal mit. Was als Geschichte sehr reizvoll ist, gewinnt gesellschaftlich leider gerade eine fiebrige Nebenwirkung, weil die Vorstellung, die komplexe zeitgenössische Welt würde auch von diversen geheimen Machenschaften gelenkt, reizvoll und spannend ist. Wir leben in Zeiten, in welchen tausende von Geschichten erzählt werden, die sich nicht mehr nach Stringenz oder gar Wahrheitsgehalt richten, sondern simpel nach Spannung und Unterhaltung. Und letztendlich ist auch „Tenet“ nicht mehr als reine Unterhaltung, ein komplexes und kniffliges Rätsel, dass unser Denken herausfordert, dass aber rein gar nichts über unsere real existierende Welt aussagt. Großartig verkniffelte Unterhaltung!
Eine sehr kluge Interpretation von „Tenet“ liefert folgendes Video von Wolfgang M. Schmidt, der vielleicht das Motiv der Klimakrise etwas überinterpretiert (sie ist aber einfach die Mutter aller Krisen des frühen 21. Jahrhunderts) , aber dessen grundsätzliche Sicht; „Tenet“ als Präsenz der Zukunft in der Gegenwart zu verstehen, ich für sehr aufschlussreich halte.