Wissen Sie was das Tolle an „The Wire“ ist? Es ist immer anders! Jede Staffel scheint sich von der letzten so zu unterscheiden, als wäre es eine vollkommen neue Serie. Und trotzdem hat diese Serie einen Kern, eine tieferliegende Struktur, die einen fast süchtig macht weiter zu sehen. „The Wire“ ist wie ein komplexes und vielschichtiges Buch, das einen schon dadurch überrascht, dass es keine Gnade kennt, gewohnte Charaktere einfach über Bord zu werfen. Nachdem äußerst spektakulären Ende der 3.Staffel, werfen wir nun wieder einen neuen Blick auf Baltimore und dieser geht an die Schulen und zeigen uns nicht nur „Problemschüler“ und deren tagtägliches Überleben zwischen Gangs, Drogen, Vernachlässigung, Polizei und der Frage was man zum Leben erlernen muss und welches Wissen nicht gebraucht wird. Wir sehen auch die politische Dimension von Bildung, als Wahlkampfthema, als Systemstatistik für Fördergelder und als Fass ohne Boden das nur Geld kostet und Kinder doch nicht davon abhält jugendliche Kriminelle zu werden.
Damit ist die Grundkonstellation schon beschrieben, wir haben es bei Staffel 4 mit einer neuen Gruppe von Charakteren zu tun, einem Freundeskreis aus vier Jungs, die alle die gleiche Klasse besuchen. Da ist Michael (Tristan Wilds), der mit seinem kleineren Halbbruder bei seiner drogenabhängigen Mutter lebt, die die Haushaltsführung und Erziehung schon längst für ihre Sucht aufgegeben hat. Dukie (Jermaine Crawford) hat fast gar nichts mehr, weder einen festen Wohnsitz noch eine Familie. Die hat aber Namond (Julito McCullom), bestehend aus dem inhaftierten Ex-Barksdale-Gangmitglied Wee-Bey (Hassan Johnson) als Vater und der um ihren Lebensstandart besorgten Mutter Briana. Und wir haben Randy (Maestro Harrell), der froh ist endlich bei einer Pflegemutter leben zu können. Diese vier Jungs begleiten wir vom Ende der Sommerferien bis Weihnachten. Doch da wäre noch viel mehr zu sagen, wobei wir das nur tun können, wenn wir damit Rückschlüsse auf die bisherigen drei Staffeln preisgeben, deshalb kommt hier ein kräftiger SPOILERALARM (wer nicht mindestens das Ende von Staffel 3 gesehen hat, bekommt auf den nächsten Zeilen zu viele Informationen).
Nachdem Ende des Barksdale-Stanfield Krieges wird Marlo Stanfield (Jamie Hector) der neue Drogenboss der Westside Baltimores. Sein Regime ist wie er selbst; kühl, rational und beim kleinsten Problem gnadenlos tödlich. Zwei seiner Soldaten stechen dabei durch kühle Tötungspraxis heraus. Todesengel Chris (Gbenga Akinnagbe) dessen emotionsloses Morden in Kontrast zur grellen Gangsterbraut Snoop (Felicia Pearson) steht, deren Weiblichkeit mir erst beim nachherigen Studium auf wikipedia bewusst wurde, was, wenn Sie mich fragen, einiges heißt (nur was genau?). Da der Barksdale Clan nicht mehr existiert, muss Bodie (J.D. Williams), als letzter Veteran der Drogenecken der Westside zu Marlon wechseln. Die Polizei sieht sich währenddessen unklaren Zeiten ausgesetzt, denn es sind Bürgermeisterwahlen und Amtsinhaber Royce (Glynn Turman) muss sich bei den Vorwahlen gegen Stadtrat Carcetti (Aidan Gillan) behaupten, der die Kriminalitätsrate als Hauptangriffsargument benutzt. So ist die Polizei in der Zwickmühle den neuen Wind vorher ahnen zu müssen und entweder noch härter beim kleinsten Vergehen einzuschreiten oder sich auf wirkliche Polizeiarbeit zu konzentrieren.
In den Drogenquartieren kämpft derweil Bubbles (Andre Royo) seinen alten Kampf ums Überleben mit seinem rollenden Einkaufswagen und einem neuen Gefährten. Dennis „Cutty“ Wise (Chad L. Coleman) betreibt sein Jugendboxcamp und Omar (Michael K. Williams) muss seine Robin-Hood Aktivitäten nach dem Wegfall des Barksdale Clans auf ein neues Ziel ausrichten. Und die vier schon angesprochenen Jungs leben genau zwischen diesen Menschen in der Westside Baltimores. In die Schule zurückkehrend, werden sie vom ehemaligen Spezialeinheitmitarbeiter Roland „Prez“ Pryzbylewsk (Jim True-Frost) als Klassenlehrer betreut, der bald feststellen muss, dass auch Schulbildung, genauso wie Polizeiarbeit, nach systemischen Statistiken bewertet wird. Aus dieser Bewertung will auch ein neues Universitätsprojekt ausbrechen, dass Schülern, die hoffnungslos hinterher hängen eine eigene Klasse verschafft. Dafür wird der ehemalige Western District Commander Bunny Colvin (Robert Wisdom) gewonnen.
Staffel 4 benötigt erst etwas Eingewöhnungszeit, denn der Tod Stringer Bells und die Inhaftierung von Avon Barksdale kann man nicht anders, als einen Verlust an Identifizierung mit Charakteren bezeichnen. Doch sogleich nutzt die Serie dies als Chance. Marlon ist so sympathisch wie Mundfäule und bringt erstmals das pure Böse voll zur Geltung (gegen ihn war der Barksdale Clan ein netter Kindergeburtstag). Und in dieser noch rauer werdenden Welt müssen die Jugendlichen ihr Leben leben und Entscheidungen treffen, die in ihrer Tragweite in ihrem Alter kaum zu überblicken sind. Ein fantastisches Casting ist dabei gelungen, denn alle Jungdarsteller sind äußerst glaubwürdig gespielt. Anders als bei der Vorgängerstaffel ist die gesamte Handlung konstanter erzählt, es gibt keine etwas abfallenden Phasen in der Mitte, aber auch kein hochdramatisches Ende (oder doch? Kommt ein wenig darauf an, welche Charaktere ihnen besonders ans Herz gewachsen sind). Anders als nach Staffel 3, scheint kein eklatanter Bruch zu kommen. Und so zeigt auch die vierte Staffel wie das Leben in Baltimore aussieht, ob nun bei den großen Zusammenhängen im Rathaus oder bei den kleinen Drogenverkäufen an den Ecken.