Thomas Pynchon – Bleeding Edge

Thomas Pynchon ist einfach ein Faszinosum. Der Autor von dem keine (aktuellen) Fotos existieren und der bei den Simpsons mit einer Papiertüte über den Kopf dargestellt wird, hat 2013 seinen neusten und nunmehr achten Roman veröffentlicht. Diesmal widmet er sich zwei Ereignissen, die unser Leben seit dem Anfang des Jahrhunderts verändert haben. Das eine ist der „11.September“, das andere „Ereignis“ ist das Internet.

Als Leser folgen wir Maxine Tarnow, einer privat ermittelnden Wirtschaftsdetektivin. Sie lebt mit ihren beiden Söhnen allein, da die Ehe mit ihrem Mann Horst nicht richtig funktionieren will. In ihren tagtäglichen Fällen stöbert Maxine sich durch die Welt der Wirtschaftskriminalität, liest Excel Tabellen auf fehlerhafte Rechnungen aus und findet die Lücken, wo Geld abgezweigt wird und in undurchsichtige Kanäle verschwindet. Ein alter Freund, Reg, hat den Auftrag bekommen die Internetfirma „hashslingrz.com“ (ein „hash slinger“ ist eine unhöflicher Kellner oder Koch in einem runtergekommenen Diner) zu dokumentieren, aber diese wirkt auf ihn zunehmend suspekt und er bittet Maxine, sich das Unternehmen etwas genauer anzusehen. Dabei stößt sie auf die dubiosen Machenschaften das Dot.Com Oligarchen Gabriel Ice. Dieser scheint an fast jedem Internetunternehmen beteiligt zu sein und kauft immer weiter ein. Sein Interesse, scheint sich auch auf ein Projekt von zwei von Maxines Freunden zu richten. Vyrva und Justin schicken ihre Tochter auf die gleiche jüdische Schule wie Maxine ihre Söhne. Justin hat zusammen mit einem Freund ein Programm namens „DeepArcher“ (sprich: Departure) entworfen, eine Art von second life, eine virtuelle Realität. Das Programm versteckt sich im schwer zugänglichen Teil des Internets im Deep Web, benutzt aber eine Verschlüsselung, auf die es scheinbar die ganze Welt abgesehen hat.

Die Story von „Bleeding Edge“ (der Begriff steht für eine technische Neuerung, die sich noch in der Beta-Phase befindet) beginnt im Frühjahr 2001 in New York. Natürlich kann man als Leser dabei nicht vergessen, was am 11.9. in der Stadt passieren wird und Pynchon versteht es sehr gut, nicht nur die Ereignisse jenes Tages einzubauen, sondern insbesondere alle Gerüchte, Verschwörungstheorien und offizielle Erklärungen in den Roman einfließen zu lassen. „Bleeding Edge“ ist somit gleichzeitig eine Kulturgeschichte New Yorks zwischen dem Platzen der Dot.Com Blase (also den dramatischen Einbruch von Internetstartups 1999) und dem Leben mit und nach dem 11.September.

Thomas Pynchon erzählt uns ein hervorragendes Portrait unserer Zeit. Maxine lebt in einer Welt in der sie dauernd in Geschichten geworfen wird, dessen Anfang sie nicht wirklich kennt und dessen Ende sie vielleicht nicht erleben wird, weil die Geschichten die Umlaufbahn ihrer Aufmerksamkeit verlassen haben. Ist das nicht eine wunderbare Allegorie auf das was jeden Tag auf uns einprasselt? Vielleicht ist das eine zu medienkritische (im weitest möglichen Sinne des Wortes Medium) Interpretation, aber in der Welt des Internets in dem jede Geschichte (tauschen sie das Wort „Geschichte“ gern mit dem Wort „Wahrheit“ aus) ihren Platz neben einer anderen Geschichte hat, sind Komplexitäten nicht mehr nur noch schwer erkennbar, sie sind wie eine Suche nach Annäherung geworden, ohne dass man Letztendliches findet. Täglich strömen neue Geschichten, oder Updates dieser, in unser Leben. Arbeitskollegen, Freunde, das Fernsehen, Zeitungen oder das Internet erzählen uns von Dingen, die selbst wenn sie uns komplex dargestellt werden, wir nie wirklich zur Gänze erfassen werden. Selbst wenn die Geschichten und Erfahrungen von denen wir hören im Einzelnen durchaus Sinn ergeben, hinterlassen sie eine zu tiefst fragmentarische und ungeordnete Wirklichkeit. Pynchon versteht es, uns diese Welt näher zu bringen, die insbesondere durch die Erfindung des Internets dazu beiträgt, das die Grenzen von Wirklichkeit immer fließender werden. Es bleibt nur noch eine letztinstanzliche Wahrheit oder (Lebens-) Geschichte; und das ist bei Pynchon die Familie, als der Hafen der Bekanntheit und Vertrautheit.

Wer einen Krimi sucht, mit Mord, Aufklärung und eindeutigem Mörder, dem kann man „Bleeding Edge“ keinesfalls empfehlen. Wer jedoch eine sehr witzig-ironische Darstellung unserer Zeit lesen möchte, die einen (für Pynchon) überschaubaren Rahmen an Charakteren (wikipedia listet 24, mein Spickzettel zeigt mir etwas mehr an) hat und mit 600 Seiten auch eine überschaubare Fülle, der ist mit diesem Buch bestens beraten. Wohl der beste Pynchon, den ich bisher gelesen habe (aber mir fehlen noch die „härteren“ Brocken).

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