Über ein halbes Jahr hat mich „Gegen den Tag“ begleitet, ich kann mich nicht erinnern je so lange für einen Buch gebraucht und es trotzdem beendet zu haben. Doch das ist keinesfalls als Kritik am Werk zu verstehen. Fast 1600 Seiten stark ist Pynchons sechster Roman, der 2006 veröffentlicht wurde. Trotz dieser Länge und dem Hang des Autors, Sätze unter einer Zeilenlänge von drei nicht wirklich beginnen und schon gar nicht enden lassen zu wollen, ist es ein grandioses Werk und mit Sicherheit das Beste, dass ich vom großen Unbekannten der amerikanischen Gegenwartsliteratur las.
Die Frage worum das Buch handelt, ist nicht wirklich einfach zu beantworten, denn vor allem ist „Gegen den Tag“ ein sehr komplexes Werk. Grob kann man festhalten, dass der Handlungsrahmen zwischen der Weltausstellung in Chicago 1893 und den frühen 1920er Jahren handelt. In der Sekundärliteratur findet sich eine Unterteilung in vier Erzählstränge: Die Geschichte der Luftschiffbesatzung „Freunde der Fährniss“, Die Geschichte der anarchistischen Familie Traverse, ein Krieg der Wissenschaften bzw. Wissenschaftler und ein Netz von internationalen Spionageaktivitäten. Selbstverständlich sind diese Stränge ineinander verwoben und lassen sich auch nicht klar trennen, ganz im Gegenteil, sie lassen den Leser sehr häufig an interpretative Grenzen stoßen, selbst wenn er fleißig versucht über alle auftauchenden Charaktere Buch zu führen.
„Gegen den Tag“ besitzt vielmehr eine fiktionale Architektur, die klare Erzähllinien oder singuläre Charaktere aufgibt und selbst vor unterschiedlichen Genres nicht halt macht. Manchmal ist es ein Abenteuerroman (bei den Geschichten der „Freunde der Fährniss“) mit Science-Fiction Elementen, dann wieder ein Agententhriller oder Selbstfindungsgeschichten und Familienhistorien.
All das läuft vor dem Hintergrund eines historischen Romans ab, der damit spielt, dass der Leser weiß, dass die Welt davor steht in den ersten Weltkrieg zu schlittern. Es ist die Welt in der der Kapitalismus (der in seiner unmoralischen Form vom Unternehmer Scarsdale Vibe repräsentiert wird) das Leben der Menschen mehr und mehr beherrscht. Die Gegenbewegung dazu ist ein Anarchismus, der in vielfältigen Formen auftaucht, sich aber an der Familiensaga der Familie Traverse versinnbildlicht. Es ist ein Roman über das Leben und die Ausflucht aus einem vorherbestimmten Weg, den Ausbruch aus der Rationalität in das Unbestimmte. Das macht „Gegen den Tag“ nicht unbedingt zu einem schnell zu lesenden Leseschmöcker, aber das will das Buch auch gar nicht. Vielmehr ist es teilweise ein wunderbares Lesevergnügen, das humorvoll und selbstironisch sein kann, aber auch weltgeschichtliche Ereignisse, wie den Einfall der Campanile in Venedig ebenso aufgreift, wie das Tunguska Ereignis in Sibirien. Ein großartiges Buch, auch wenn man etwas Zeit mitbringen muss, es lohnt sich.
Ohne Zweifel, das beste Buch das ich 2016 gelesen habe.