Der große amerikanische Roman, wenn man denn eine solches Sujet in der Literatur verorten möchte, versucht die DNA der USA aufzuspüren, zu zeigen, was dieses Land antreibt, aufhält, bewegt, erregt, kurz was es heißt „Amerika“ zu sein. T.C. Boyles dritter Roman, aus dem Jahr 1987 kann man ziemlich gut in diesem Themenbereich verorten, denn er spielt nicht nur an der amerikanischen Ostküste, sondern beschreibt den Zustand der USA anhand von zwei sehr unterschiedlichen Zeitpunkten. Im 17. Jahrhundert und in der Zeit der Hippies um 1968.
Im 17. Jahrhundert bevölkern zumeist Holländer die Felder rechts und links des Hudson Rivers, der in seinem Unterlauf bei Nieuw Amsterdam (dem heutigen New York) in den Atlantik mündet. Die neue Welt verlangt den aus dem alten Europa kommenden Siedlern allerhand ab, so wie den Van Brunts, die versuchen auf dem von ihnen gepachteten Gebiet des Nysen’s Roost genügend Lebensmittel anzubauen, um durch den harten Winter zu kommen, aber auch um den Großgrundbesitzer Van Wart seine Pacht bezahlen zu können. Das Pachtverhältnis erinnert noch sehr an die Ungleichheiten der europäischen Leibeigenschaft und Konflikte zwischen dem Verpächter und seinen „Untertanen“ kommen durchaus vor.
In den wilden Hippie-Jahren, den 1968ern, ist es Walter Van Brunt, der bei einem Motorradunfall seinen rechten Fuß verliert, als er die Kontrolle über seine Maschine verliert und gegen eine Gedenktafel prallt, die an zwei Aufständige erinnert. Er wird verfolgt von den Geistern seiner Familie, die ihn immer wieder in seiner Fantasie aufsuchen. Dabei stellt er sich die Frage nach seinem Vater, der nach einem schicksalhaften Ereignis 1949 verschwand, an dem auch der örtliche Krösus Depeyster Van Wart irgendwie beteiligt gewesen sein muss.
„World’s End“ entfaltet auf seinen über 600 Seiten eine Schau auf die Anfänge europäisch-amerikanischer Zivilisation in den USA und auf deren Situation im 20.Jahrhundert. Das gelingt indem T.C. Boyle zwei Handlungsstränge, die sich jeweils über Generationen ziehen, inhaltlich koppelt und so Vergleiche ermöglicht, wie Charaktere in ganz unterschiedlichen Epochen agiert haben. Er erzählt von Verrat und Macht, von Mut und Feigheit, von den Lasten der Vergangenheit und den Zumutungen der Zukunft und zeichnet damit das Bild einer Nation, die sich im Laufe der Jahrhunderte grundlegend veränderte, die aber immer noch auf der Suche nach ihrer Grundessenz, der Freiheit ist. Machtkonstellationen fordern dieses Freiheitsgefühl immer wieder heraus und es gelingt Boyle sehr eindrucksvoll zu zeigen, wie soziale Beziehungen durch äußere Einflüsse und innere Einstellungen neue Wendungen nehmen, aber doch auch über viele Jahrhunderte hinweg gleich zu bleiben scheinen. Der Guardian bezeichnete „World’s End“ als einen übersehenen Klassiker des 20. Jahrhunderts. Vielleicht ist diese Einschätzung etwas zu hoch gegriffen, denn die historische Struktur des Romans lässt etwas von Boyles großartigem Humor, den er in „Wassermusik“ eindrucksvoll zur Schau stellte, vermissen. Trotzdem ist „World’s End“, gerade für Leser, welche die USA und damit eigentlich die 1.Welt reflektieren möchten, ein großartiges und trotz seines Alters von über 30 Jahren immer noch sehr lesenswertes Buch eines Autors, der grandiose Geschichten erzählen kann.